Wozu den kalten Mondbaum biegen?
„Sie gehört zum Mond“, schrieb der berühmte Arzt und Alchemist Nicolaus Culpeper im 17. Jhd. über die Weide. Auch für die alten Anhänger der Humoralpahologie besaß die Weide eine „kalte und trockene Natur“. Obwohl das fiebersenkende und schmerzlindernde Potential der Weide klinisch nachgewiesen wurde, besinnt man sich meist nur zu Ostern an ihre Tradition als „Weihbusch“. Sind pflanzliche Schmerzmittel im modernen Zeitalter von Diclofenac und Aspirin längst überholt oder sollen wir die Weide wieder biegen lernen?
Schmerzmittel für die Fisch‘?
Fällt der Ast einer Bruch-Weide und damit einer Stammpflanze für arzneibuchkonforme, salicylatreiche Rinde in den Bach, darf sich ein Fisch schon Mal erschrecken. Der Schrecken über den natürlichen Verbreitungsmechanismus der Pflanze „bricht“ ihm aber nicht die Nieren. Was aber passiert, wenn dem natürlichen Stoffkreislauf fremde Stoffe, sogenannte Xenobiotika ins Wasser fallen? Die Beurteilung eines Arzneimittelstoffes hinsichtlich seiner tatsächlichen Unbedenklichkeit und Sicherheit sollte nicht wie bisher bei der renalen Ausscheidung des Menschen und der Toilette enden. Erst seit wenigen Jahren erkennt man einen Bruchteil der erschreckenden Tragweite von in Oberflächengewässern und in Böden akkumulierenden Medikamentenrückständen. Alleine in Deutschland gelangen jährlich zwischen 60 und 70 Tonnen Diclofenac, einem gebräuchlichen Wirkstoff in nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR), über die Hausentwässerung zur Kläranlage. Und dann? Trotz der erstaunlichen Leistung von Mikroorganismen im Abbau dieses Xenobiotikums gelangen jährlich rund 8 Tonnen in die Natur. In Österreich verhält es sich proportional nicht viel anders. Eine aktuelle Studie des Umweltbundesamtes stellt Diclofenac zu den Spitzenreitern von Arzneimittelrückständen in Oberflächengewässern und in der Donau wurde die „1 Mikrogramm pro Liter“ –Schwelle bereits überschritten. Während Wissenschaftler weltweit die nierenschädigende Auswirkung dieses synthetischen „Aliens“ in Fischen und Vögeln dokumentieren, gibt es weder in Deutschland, noch in Österreich ein zugelassenes pflanzliches Schmerzmittel auf Basis von Weidenrinde. Warum ist das so? Hilft der „Weihusch“ vielleicht nur bei Indianern, weil sie fest daran glauben und wir nicht?
Echter Indianer kennt Schmerz und 20 Weiden
Von den Nunivak und Inuit im Norden bis zu den Seminolen im Süden Nordamerikas werden ausgewählte Weidenarten von Indianervölkern gezielt als Analgetikum genutzt. Dabei kommen Triebspitzen und Rinden die größte Bedeutung zu. Abseits der Verwendung als Gerbstoffdroge bei Hautleiden und Diarrhöe stellen Fieber, rheumatische Beschwerden und unspezifische Schmerzzustände die häufigsten Indikationen für die rund 20 ethnopharmakologisch genutzten Weidenarten Nordamerikas dar. Hinter der einst als „kühlenden Natur“ beschriebenen Eigenschaft der Weide versteckt sich nach aktuellem Wissensstand nicht die alleinige Wirkung der Salicylsäure, sondern vielmehr das Zusammenspiel eines Vielstoffsystems mit Flavonoiden, Gerbstoff-Vorstufen mit oligomeren Procyanidinen und Salicylaten. Dabei handelt es sich um „gute alte Bekannte“ für unser globales Ökosystem, denn diese phenolische Verbindungen zählen zu den pflanzlichen „Ursprachen“, an welche sich saprophytische Mikroorganismen über Millionen Jahre gewöhnt haben.
Das lineare, aus modernen Lehrbüchern der Pharmazie bekannte Wirkschema des Salicins, einer natürlichen Vorstufe der Salicylsäure, ist wahrscheinlich nur ein Teilaspekt des gesamten „Weidenwesens“. Erst unlängst wurde die Bedeutung des bisher vernachlässigten Inhaltsstoffes Salicortin in einem vom Salicin abweichenden Stoffwechselweg entdeckt. Die entzündungshemmende und antirheumatische Wirksamkeit von Weidengewächsen, also inklusive Zubereitungen mit Vertretern der Gattung Pappel, wurde in mindestens 18 klinischen Studien bewiesen und die sonst sehr zurückhaltende europäische Arzneimittelagentur spricht dem Weidenrindenextrakt sogar einen „well established use“ bei chronischen Rückenschmerzen zu. Eine jüngste Forschungsarbeit von 2019 zeigt zudem eine Überlegenheit alkoholischer Pappelextrakte (mit dem für Weiden typischen „Sprachmuster“) gegenüber Diclofenac hinsichtlich der Hemmung „aktivierter“ Immunzellen, die bei rheumatischen Beschwerden eine zentrale Rolle spielen.
Welcome Aliens!
Während Skeptiker von einer ökonomischen Unrentabilität für den Anbau salicylatreicher Weidensippen und die Produktion pflanzlicher Schmerzmittel sprechen, werden potentiell umweltgiftige und nebenwirkungsreiche Xenobiotika weiterhin durch Kassenrückerstattungsfähigkeit de facto subventioniert und pflanzliche Alternativen benachteiligt. Ernst gemeinte Überlegungen zur Ökonomie dürfen ökologische Folgen aber nicht ignorieren. Wer zahlt z.B. den „kaputten“ Fisch? Mit einer „Xenobiotika-Steuer“ auf potentiell umweltschädliche, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel könnte man z.B. Weidenanbauprojekte und die Erforschung salicyaltreicher Populationen fördern und pharmazeutische Betriebe zum Mitdenken bewegen. Doch die Spirale dreht sich anders herum: Aus dem Verdienst verschreibungspflichtiger und erstattungsfähiger Medikamente können Konzerne auch ihre nicht-erstattungspflichtigen „Hausprodukte“ desselben Labels zu Dumpingpreisen anbieten. Wer kann noch widerstehen, wenn z.B. die „Voltaren Coupon Aktion“ mit dem 1-Euro-Rabatt auch für alle rezeptfreien Voltaren-Präparate lockt? Die wahren Kosten solcher zu „Sonderangeboten“ erhältlichen NSAR zahlen am Ende aber nicht nur Fisch und Vogel.
In Österreich lag der Gesamtverbrauch an entzündungshemmenden Medikamenten mit antirheumatischer und analgetischer Wirkung im Jahr 2015 bei fast 250 Tonnen. Wie viel Weide müssten wir also kultivieren, um die Äquivalente für Ibuprofen, Diclofenac und Paracetamol zu erreichen? Unrealistisch viel! Aber soll man so rechnen und denken? Vielleicht sollten wir den „Weihbusch“ zumindest als Vorzeigemodell für ein vollwertiges Schmerzmittel pflanzlicher Herkunft mit Unbedenklichkeit für unser Ökosystem sehen und fördern.
Der Darm zahlt mit
Naturfremde Stoffe belasten nicht nur unsere Biosphäre, sondern auch das „Darmökosystem“. Im Schatten der längst bekannten Auswirkung antibiotischer Substanzen sind die Folgen nicht-antibiotischer Arzneistoffen auf unseren Darm bisher unzureichend bekannt. Das Ergebnis der 1. systematischen Erforschung über die Auswirkung von Xenobiotika auf unsere Darmflora der Universität Heidelberg mit dem Titel „Extensive impact of non-antibiotic drugs on human gut bacteria“ (In: Nature 2018) ist besorgniserregend: Über ein Viertel aller 1197 untersuchten Arzneimittel kann zu einer „Verschiebung“ des Darmmikrobioms von „guten“ Keimen in Richtung Fehlbesiedelung mit pathogenen Mikroorgansimen führen. Seit längerem wird vermutet, dass Xenobiotika das Gleichgewicht unseres Darmmikrobioms stören und mit einer Reihe von Erkrankungen assoziiert sein können.
Natürliches Aspirin?
Seit der Markteinführung der Acetylsalicylsäure am Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnen Heilpflanzenkundige die Rinde der Weide oft mit Stolz als „natürliches Aspirin“. Bekanntlich stand die Weide für die pharmazeutische Entwicklung gutmütig Modell, während das Mädesüß (Spierstaude) trotz unter 0,5% Salicylatgehalt zur stolzen „Taufmutter“ von Aspirin wurde. Doch ist der Vergleich zwischen Weide und Aspirin auch wirklich zutreffend und sinnvoll?
Wie bereits dargestellt wirkt Weidenrinde nicht als Monosubstanz, sondern vielmehr als pflanzliches Vielstoffsystem. Grund aktueller Blutplasmastudien müsste der Gehalt an Salicylaten drei Mal höher liegen, um den entzündungshemmenden Effekt zu erklären. Da steckt also „mehr“ in der Weide. Selbst die aus Phenolglykosiden im Körper entstehende Salicylsäure ist mit dem Einzelstoff des Aspirins, der Acety-Salicylsäure (ASS), nicht wirklich zu vergleichen. Während der natürliche „Verwandte“ keinen in der Klinik relevanten Einfluss auf die Blutgerinnung besitzt, hemmt ASS ein für die Aggregation von Blutplättchen wichtiges „Heinzelmännchen“ irreversibel und führt zum volkstümlich bezeichneten „Blutverdünnungseffekt“. Der Preis für diese oft erwünschte Wirkung sind Mikroblutungen im Verdauungssystem. Die falsche Analogie führt nicht selten auch bei Ärzten zu Unsicherheiten mit dem Umgang von Weiden- und Pappelrindenzubereitungen und sollte besser vermieden werden.
Die eigene Herstellung von Weidenrindenzubereitung ist sehr einfach. Der Weg zum wirksamen Heilmittel beginnt vor allem mit der Auswahl geeigneter Weidenarten, dem richtigen Erntezeitpunkt und endet mit der sinnvollen, individuell verschiedenen Kombination mit anderen Pflanzen. Wer sein Wissen über die Weide in Botanik und Phytotherapie testen möchte, kann hier das Biegen üben:
Wer mehr über heimische Weiden und andere Rindendrogen in Botanik, Pharmakologie und Phytotherapie erfahren möchte, ist bei meinem Seminar „Die Hölzer der Persephone“ auch im nächsten Jahr gerne willkommen.
Viel Freude mit dem Weihbusch wünscht Euer Phytagoras!