Der Mythos vom Maiholz
Biegen und Brechen der Weide in der Heilpflanzenkunde
Die berühmte Biegsamkeit der Weide betrifft nicht nur ihre Zweige, sondern auch ihre stoffliche „Sprachgewandtheit“. Auch Pflanzen dürfen eben einmal wortgewaltig schreien und dann wieder kleinlaut schweigen – zumindest auf der Ebene sekundärer Inhaltsstoffe. Für die medizinische Nutzung von Weidenrinde als entzündungshemmende Droge mit Anforderung an einen hohen Gehalt an Salicylalkoholverbindungen, kurz „Salicylate“, ist diese ökologische Dynamik wenig erfreulich.
Während die pharmazeutische Industrie auf die Kultivierung salicylatreicher Klone, wie z.B. jene der Schwarzwerdenden Weide (Salix myrsinifolia) setzt, muss die Volksheilkunde den Irrglauben an die Eignung aller schmalblättrigen Weidenarten aufgeben. Für beide stellt sich am Ende aber dieselbe Frage: Wann ist die Weide am geschwätzigsten?
Aus "Mailholz" wird "November-bis-März-Holz"!
Wer nach alter Tradition seine Weidenrinde gemäß dem volkstümlichen Namen „Maiholzrinde“ im Vollfrühling und damit nach der Blattentfaltung erntet, ist nach neuen Erkenntnissen der Humboldt Universität Berlin wahrscheinlich um zwei Monate zu spät am Schälen. Das gilt in jedem Fall für die drei Rekordhalter Reif-Weide (Salix daphnoides), Purpur-Weide (S. purpurea) und Lorbeer-Weide (S. pentandra) eines zweijährigen „Salicylat-Sprachwettbewerbs“, an dem 270 Weidenarten und 140 ihrer Klone angetreten sind. Immerhin geht es um die mögliche Ausbeute von 7,7%, 5,3% bzw. 3,3% Salicylate im Zwei-Jahres-Winterdurchschnitt der drei Spitzenreiter.
Während viele andere Arzneipflanzen gerade im Sommer in ihren oberirdischen Organen ein Maximum an ökologisch bedeutsamen „Sprachstoffen“, sog. Ökomonen, erreichen, nimmt das „Weidenrinden-Vokabular“ der familientypischen Phenolglykoside bereits ab Vorfrühling stetig ab und führt im Spätsommer zu einer obligatorischen „Redefaulhaut“. Dies sommerliche „Sprechpause“ korreliert mit einer Studie der Universität Ostfinnland zum Klimawandel, nach dem die „Gesprächigkeit“ von Weiden mit zunehmender Temperatur abnehmen soll und erklärt vielleicht die ausgeprägte Saisonalität.
Im „Sprachlabor“ erreichte die Purpur-Weide bereits im kühleren Oktober ihre alte „Lautstärke“ wieder, während Reif- und Lorbeer-Weide erst im Dezember zum alten „Dialekt“ fanden. Aus den Ergebnissen der Abteilung für Ökophysiologie der Universität Berlin sollte sich für die Volksheilkunde ein neues Erntefenster für Weidenrinde von Hochwinter bis Vorfrühling ergeben. Wer in Zukunft auf Nummer sicher schälen will, macht aus dem traditionellen „Maiholz“ also besser ein „Märzholz“ und kann mit dem Spruch „Märzstund hat Salicin im Mund“ oder „Ab Mai Weidenzauber vorbei“ umlernen. Noch besser ist die Orientierung am phänologischen Kalender: Wenn Erle und Hasel blühen, dann steht der Vorfrühling vor der Tür und es ist allerspätestens „Weidenrindenzeit“. Die aktuelle Studienlage lädt natürlich auch zum „Bejagen“ der Weide im Hochwinter ein und kann (in Absprache mit der Forstwirtschaft) mit der Christbaumsuche weihnachtlich kombiniert werden.
Weiden-Politik
Der Hintergrund für die ausgeprägte „Laut-Leise“-Saisonalität der Weidesprache besteht im sog. Trade-off: Die Pflanze muss entscheiden, ob sie in Wachstum und Biomasseentwicklung oder in sekundäre Inhaltsstoffe „investiert“. Mit dem Blattaustrieb sowie dem Längen- und Breitenwachstum der Sprosse kommt es zusätzlich zu einem „Verdünnungseffekt“. Die Salicylate verteilen sich dann auf eben mehr Weide und die Drogenqualität nimmt dadurch ab.
Qual der Wahl
Welche der rund 400 in den gemäßigten und kühleren Zonen der Nordhemisphäre vorkommenden Weidenarten soll man nun verwenden, um eine wirksame Droge gegen Schmerzen im Bewegungsapparat, Fieber und Kopfschmerzen zu gewinnen? Seit längerem ist der zum Teil „baumhohe“ Unterschied zwischen verschiedenen Weidenarten im Salicin-Gehalt bzw. seiner Vorstufen gut bekannt und klinische Studien heben die Latte von einst 120mg auf 240mg Tagesdosis Salicin zur Behandlung akuter Schmerzzustände an. Obwohl die Silber-Weide (Salix alba) selten über 1% Salicylate in der Rinde erreicht und in vielen Untersuchungen oft deutlich darunter liegt, wurde sie über Jahrzehnte in modernen Pharmakopöen und Lehrbüchern für Phytotherapie als geeignete Stammpflanze „zurechtgebogen“. Zum Erreichen einer therapeutisch relevanten Dosis müsste man also mit viel Glück 24g, im Regelfall aber wohl eher 48g Droge täglich einnehmen!
Bei Verwendung der drei natürlichen Hochleistungsklone aus Reif-Weide, Purpur-Weide und Lorbeer-Weide könnte dieselbe Tagesdosis mit nur 3,1g, 4,5g bzw. 7,4g erzielt werden, wenn der Erntezeitpunkt richtig gewählt wurde. So schont man nicht nur den „Baum der griechischen Unterwelt“ und gewinnt die Gunst der Göttin Persephone, sondern verschont damit auch die eigene Magenschleimhaut, denn immerhin verstecken sich in der Weidenrinde 8-20% Gerbstoffe.
Für die Nutzung der Purpurweide in der Volksheilkunde sprechen nicht nur häufiges Vorkommen und einfache botanische Bestimmung, sondern ihre relativ konstante „Lautstärke“ – also die geringe Schwankungsbreite der Salicylate in geographisch getrennten „Sprachinseln“. So muss man sich weniger Sorgen um wortkarge Dialekte in bestimmten Weidenpopulationen machen. Das Beispiel Silber-Weide widerlegt den volkstümlichen Glauben, dass alle schmalblättrigen Weiden geeignete Stammpflanzen zur Drogengewinnung sind. Umgekehrt beweist die Schwarzwerdende-Weide, dass man nicht alle rundblättrigen Weiden verachten darf.
Botanische Anleitung zur Pirsch
Unerwartet meint es Asklepius, der griechische Gott der Heilkunst, gut mit dem Botanik-Muffel, denn die beiden lautstärksten Weiden zählen zu den sog. „vorläufigen“ Arten. Sie blühen daher vor dem Blattaustrieb und sind damit vor dem „Trade-off“ und dem „Verdünnungseffekt“ leicht bestimmbar. Die Purpur-Weide ist der einzig heimische Vertreter, bei dem die Staubfäden der männlichen Blüte bis zu den Staubbeuteln verwachsen sind und besitzt scheinbar vier, zu Blühbeginn rötlich gefärbte Staubbeutel pro Filament. Die Deckblätter männlicher und weiblicher Blüten sind „zweifärbig“, worunter man einen hellen Grund und eine dunkelbraun bis schwarze Spitze versteht.
Die Reif-Weide „outet“ sich namensgerecht sehr oft mit einer bläulich-weißen Bereifung ihrer 2- bis 3-jährigen Zweige. Ihre zottig behaarten Blütendeckblätter sind ebenfalls zweifärbig mit gelbgrünem Grund und dunkelbraunem Rest der Spreite.
In die Praxis gebogen!
In Österreich und Deutschland sind derzeit keine Fertigarzneimittel mit Weidenrindenextrakt erhältlich. Das ist erstaunlich, da Weidenrinde als das „potenteste pflanzliche Analgetikum“ (Fintelmann V. et al. 2017) in der Phytotherapie gilt und klinische Studien mit 240mg Salicin-Äquivalent eine Gleichwertigkeit mit Nicht-steroidalen Antirheumatika belegen (Wenigmann M. 2017, Förster N. et al. 2010, Fintelmann V. et. al. 2009). Um an die etwas in Vergessenheit geratene Kunst der Teerezeptur zu erinnern, sollen nachstehend zwei Teemischungen mit Weidenrinde angeführt werden:
Fiebertee (Ursel Bühring)
Rp.
Lindenblüten (Tiliae flos) 30,0
Mädesüßblüten (Spiraea ulmariae flos) 30,0
Fieberkleeblätter (Menyanthidis fol.) 10,0
Weidenrinde (Salicis cortex) 15,0
Engelwurzwurzel (Angelicae radix) 15,0
M.f.spec.D.S.: 1 TL mit 1 Tasse heißem Wasser übergießen, 10 Min. bedeckt ziehen lassen. Mit 1 Scheibe Ingwer, etwas Zitrone und Honig würzen.
3-Rinden-Tee (Ulf Böhmig)
Indikation: kurzfristige Begleitung akuter Rückenschmerzen
Rp.
Weidenrinde (Salicis cortex)
Schwarzpappelrinde (Populi nigri cortex)
Zitterpappelrinde (Populi trem. cortex) zu gleichen Teilen auf 100,0
M.f.spec.D.S.: 1 EL mit 500ml siedendem Maisgriffelwasser überbrühen, 15 Min. bedeckt ziehen lassen, abseihen. Abgekühlten Aufguss mit etwas Honig 3 Mal tgl. schluckweise trinken.
Vielleicht trifft man sich in Zukunft nicht mehr im Mai, sondern bereits ab November unter den Weiden?
Gutes Biegen wünscht
Euer Phytagoras