Eine Knospe sucht die Nase

Die älteste Knospenarznei der Geschichte

Wer denkt schon beim verführerischen Anblick der Magnolienblüte an verstopfte Nasen, quälenden Heuschnupfen oder hartnäckige Nasennebenhöhlenentzündungen? Dabei gelten die Blütenknospen des bei uns beliebten Ziergehölzes in asiatischen Medizintraditionen seit mindestens 1800 Jahren als spezifische Arznei bei Affektionen der inneren Nase.

Abb. oben: Blick in das Allerheiligste der in Mitteleuropa häufig kultivierten Tulpen-Magnolie (Magnolia x soulangeana): Die bogenförmig gekrümmten Fruchtblätter warten auf die Bestäubung, während die dicht stehenden, purpurnen Staubblätter noch geduldig auf ihren Auftritt warten. Mit der Purpur-Magnolie als einem Elternteil, steckt in dieser Kreuzung zur Hälfte eine Arzneipflanze mit rund 2000 Jahren Medizintradition. (Foto: Vogt)

Seit der Aufnahme in die berühmte „Materia medica des göttlichen Landmannes“ im 2. Jahrhundert schätzt man in der TCM-Praxis bis heute die öffnende und zerstreuende Kraft von „Xin Yì Hua“, der „scharfen Magnolienblüte“, bei Entzündungen der Nasen- und Nasennebenhöhlenschleimhaut – also bei Rhinitiden und Sinusitiden. Entgegen der offizinalen Drogenbezeichnung „Magnoliae flos“, also Magnolienblüten, werden aber nur die geschlossenen, fest von pelzigen Knospenschuppen umhüllten Blütenknospen arzneilich genutzt. Damit liefert die Magnolie nicht nur die älteste beschriebene Knospenarznei der Medizingeschichte, sondern erreicht mit der inneren Nase auch einen äußerst selten beschriebenen Wirkungsort für eine pflanzliche Arznei.

In modernen europäischen Arzneipflanzen-Monographien vermisst man die Nase jedenfalls auf weiter Strecke, während die traditionell chinesische Medizin (TCM) mit der Sibirischen Engelwurz, der Spitzklette und dem Chinesischen Liebstöckel mindestens drei weitere Heilpflanzen mit spezifischer Ausrichtung auf die innere Nase kennt.
Doch kann eine „Nasenarznei“ aus modern pharmakologischer Sicht auch existieren? Mit welchem wundersamen Kompass sollte die Magnolienknospe unsere fern gelegene Nase finden?

Abb. oben: In der als Ziergehölz beliebten Purpur-Magnolie (Magnolia liliiflora) verbirgt sich eine bedeutsame Stammpflanze zur Gewinnung von „Xin Yin Hua“. Obwohl die Droge auch pharmazeutisch als Magnolienblüte bezeichnet wird, erntet man die noch geschlossenen, von pelzigen Knospenschuppen gut geschützten Blütenknospen. Sammelt man im Frühjahr zu spät, ist die Trocknung auf Grund des Wassergehaltes problematisch. (Foto: Vogt)

Höhlenforschung

Bis zu 20.000 Liter Einatemluft passieren täglich unsere Nasenlöcher und werden von einer „Klimanlage“ befeuchtet, temperiert, gasdruckreguliert und gereinigt. Dafür stellt die innere Nase ein bizares, durch schmale Gänge verbundenes Höhlensystem in den Schädelknochen bereit. Der eigentliche Luftfilter wird durch eine rund 500cm² große, die Höhlenwände auskleidende Schleimhaut mit Flimmerzellen und sekretorischen Becherzellen gebildet, welche gemeinsam den berühmten „mukoziliären Apparat“  bilden.

Angetrieben durch den simultanen und gleichgerichteten Wimpernschlag der Flimmerzellen, werden im Schleim adsorbierte Schadstoffe und Krankheitserreger wie auf einem Fließband in Richtung Rachen abtransportiert. Für das Funktionieren dieses als „mukoziliäre Clearance“ bezeichneten Reinigungsmechanismus sind offene Verbindungsgänge der Nasennebenhöhlen, Gleichtakt der Wimpernbewegung und ein zweischichtiger Aufbau der aufliegenden Schleimschicht in eine untere wässrige und obere viskose Phase von enormer Bedeutung. Wie aber können Pflanzen auf diese selbstreinigende Klimaanlage positiven Einfluss nehmen?

Pflanzen mit Nasen-Knowhow

Bisher gelang es nur einer einzigen Pflanze, in einer europäischen Arzneipflanzenmonographie den Status einer spezifischen „Nasenarznei“ zu erlangen. Die Expertenkommission E gestand der Ananas bei postoperativen und traumatischen Schwellungen der inneren Nase eine klinisch bedeutsame antiödematöse, antithrombotische und damit abschwellende Wirkung zu. Sind wir damit am Ende der Nase?

Abb. oben: Nur der Ananas hat die rationale europäische Phytotherapie bisher eine spezifische Wirkung auf die innere Nase zugestanden und befürwortet ihre Anwendung bei postoperativen und posttraumatischen Schwellungen der Nasen- u. Nasennebenhöhlenschleimhaut. Der Verzehr von fruchtigem Ananassalat reicht leider nicht aus, um ausreichende Mengen des antiödematös und abschwellend wirkenden Bromelains zu inkorporieren. Für die Therapie benötigt es Spezialextrakte, welche zudem in magensaftresistenter Form eingenommen werden müssen. (Foto: Vogt)

Zur pflanzlichen Begleitung von akuten, in der Regel viralen Entzündungen der inneren Nase gelangen in der europäischen Erfahrungsheilkunde häufig Ätherisch-Öl- und Seifenstoffdrogen zur Anwendung. Trotz unterschiedlichen Wirkmechanismen, greifen sie letztlich an denselben Stellschrauben unseres „Fließbandfilters“ an und manipulieren den Schleim („Förderband“) und die Wimpernbewegung („Motor“).

Bereits vor Jahrzehnten wurde für die Arzneiprimel die Hypothese aufgestellt, dass ihre Seifenstoffe über eine Reizung von parasympathischen Nervenfasern im Verdauungsapparat zu einer reflektorischen Anregung von Drüsen in den Atemwegen führen. Dieses auf viele Saponindrogen unkritisch übertragende Fernwirkungsmodell setzt allerdings eine selektive Anregung von dünnflüssiges Sekret absondernden serösen Drüsen und eine Hemmung von viskosen Schleim produzierenden mukösen Drüsen voraus.

Unbekümmert dem geheimen Werkzeug, mit dem Arznei-Primel, Echt-Seifenkraut, Sanikel, Tataren-Aster, Groß-Bibernelle und andere bewährt auswurffördernde und mukolytisch wirksame Seifenstoffpflanzen tatsächlich an unserem Klimafilter schrauben, am Ende gelingt eine gesteigerte Sekretion von dünnflüssigem Sekret. Nur so können die Flimmerhärchen ihre peitschenförmige Bewegung bis zu 1000 Mal pro Minute ungehindert ausführen und damit die darüber liegende viskose Gelphase mit Krankheitserregern und Toxinen weiterschieben.

Abb. oben: Arznei-Primel. Wie der (Himmel-)Schlüssel das Schloss zur inneren Nase öffnet, bleibt ein Geheimnis. Da nicht nur seine saponinhaltige Wurzel, sondern auch die flavonoidreiche Blüte klinisch „funktioniert“, wackelt die Hypothese über eine Irritation von Nervenendigungen im Verdauungsapparat mit reflektorischer Wirkung auf seröse Drüsen in den Atemwegen. (Foto: Vogt)

Filterreinigung mit Wasser und Chlorid

Die vielleicht entscheidende Stellschraube für ein pflanzengestütztes „Nasenfilterservice“ liegt in einem wenige Milliardstel Meter großen Kanal in der Außenmembran von Schleimhautzellen, durch welchen Chlorid-Ionen nach außen transportiert werden und damit den Nachstrom von Wasser einleiten. Seit einigen Jahren ist bekannt, dass nicht nur Saponine, sondern erstaunlicherweise gänzlich verschiedene Pflanzenstoffe an diesem Ionenkanal angreifen und über einen erhöhten Ausstrom von Chlorid zu einer gesteigerten Hydratisierung der Schleimschicht führen. Beispielsweise bedient sich die an Flavonoiden und Iridoiden reichhaltige Kombination aus Gelb-Enzian, Eisenkraut, Schwarz-Holunder und Sauer-Ampfer genau dieses Wirkprinzips und vermochte in klinischen Studien die Krankheitsdauer bei akuter Rhinosinusitis signifikant verkürzen.

Wie sieht es aber bei chronisch-allergischen Störungen der inneren Nase wie z.B. Heuschnupfen oder Hausstaubmilbenallergie aus, bei denen nicht die Klimaanlage selbst, sondern das „Security-System“ im Hintergrund, also unser nasenassoziiertes Immunsystem betroffen ist?  

Bis heute fehlen in der europäischen Phytotherapie heimische, unbedenkliche und zugleich in Form ihrer Drogen frei zu rezeptierende Pflanzen mit klinisch gesicherter antiallergischer Wirkung. Gelegentlich wird auf antioxidative Gerbstoffdrogen wie z.B. Zistrose, Eiche und Blutwurz oder auf beruhigende Schleimdrogen wie z.B. Kamille und Eibisch hingewiesen, die zwar Abschlussgewebe durch Oberflächenverdichtung oder Einhüllung lokal entlasten, aber kein systemisches und spezifisch antiallergisches Prinzip besitzen. Als mögliche Vorbilder fremder Medizintraditionen könnten aber Seidenakazie, Sibirische Engelwurz, Mongolischer Tragant, Saposhnikovia, Baikal-Helmkraut oder z.B. die Magnolie dienen, welche gezielt in allergische Signalwege eingreifen.

Abb. oben: Die Echt-Pestwurz ist bisher die einzige heimische Pflanze, die sich in Form eines von Alkaloiden befreiten und an Petasinen angereicherten Spezialextraktes der Blätter in klinischen Studien als signifikant antiallergisch erwiesen hat. Doch nur in der Schweiz wurde eine entsprechende Zubereitung bei allergischer Rhinitis auch zugelassen. Auch wenn Pestwurzblätter weniger lebertoxische Pyrrolizidinalkaloide (PA) wie der Wurzelstock enthalten, verbietet sich eine magistrale Verwendung der Droge. (Foto: Vogt)

Magnolie sabotiert Alarmanlage

Verglichen mit rund 10.000 Bakterien und bis zu 100.000 Viren, welche zur Erkältungszeit stündlich in unsere Atemwege gelangen, erscheinen 20-30 Pollenkörner pro Kubikmeter Luft, die zum Auslösen einer allergischen Reaktion vom Soforttyp bereits ausreichen können, beinahe lächerlich.

Doch nicht die Oberflächenproteine von Blütenstaub windblütiger Pflanzen sind das eigentliche Problem, sondern eine gegen sie unangemessen scharf programmierte „Alarmanlage“, welche von verschiedenen Immunzellen im Bindegewebe unterhalb der Nasenschleimhaut gebildet wird.
Als Sensor dienen dabei Antikörper vom Typ E (IgE), welche nach Erstsensibilisierung massenhaft von Plasmazellen produziert und an der Außenmembran von sog. Mastzellen angelagert werden.

Nach Erkennung des passendes Antigens, z.B. einem bestimmten Süßgraspollenprotein, erfolgt eine sekundenschnelle Freisetzung von entzündungsfördernden Signalstoffen aus Membranbläschen (Granula), nach dem diese mit der Außenmembran der Mastzelle verschmelzen.
Diese als Degranulation bezeichnete Ausschüttung von Histamin und anderen Entzündungsmediatoren steht am Ende einer unsichtbaren Alarmkette im Zellinneren, bei der gespeichertes Kalzium den entscheidenden Signalstoff bildet. An dieser Stelle kommt die Magnolie ins Spiel.

Mit Hilfe ihrer speziellen Lignane, sogenannten Bisepoxylignanen, werden genau jene Kalzium-Pumpen „sabotiert“, welche Mastzellen zum Wiederauffüllen ihres zellinneren Kalziumdepots verwenden. Doch damit nicht genug. Auch sogenannte T-Helferzellen vom Typ 2, welche die Produktion von IgE im Hintergrund ankurbeln, bedienen sich derselben, durch Kalzium vermittelten Aktivierung und werden demnach gleich mitgebremst.   

Seit Jahrhunderten wird in China, Japan und Korea die Magnolie traditionell bei allergischen Krankheitsbildern verwendet, bei denen ein antihistaminisches Prinzip auch sinnvoll erscheint. Aus ethnobotanischer Sicht ist dabei faszinierend, dass von rund 250 zur Auswahl stehenden Magnolienarten traditionell prompt jene genutzt werden, die sich phytochemisch stark ähneln und auch im Experiment besonders stark mastzellenstabilisierend wirken.

Abb. oben: Antiallergisches Wirkprinzip der Magnolie. Über eine Hemmung spezieller Kalzium-Kanäle („Kalziumspeicher-abhängige Kalzium-Kanäle“, SOCC) wird der von Kalzium abhängige allergische Signalweg in Mastzellen und T-Helferzellen gehemmt. Dadurch wird die Ausschüttung von Histamin und Immunglobulin E (IgE) behindert. (Graphik: ©Vogt)

Magnolie in der Phytopraxis

Welche der 245 beschriebenen Magnolienarten sollen Experimentierfreudige zur Gewinnung von „Xin Yi Hua“ in ihren Garten ziehen? In Asien werden traditionell fast ausschließlich Vertreter aus der Untersektion „Yulania“ genutzt, wobei experimentelle Arbeiten der Biond’s Magnolie, der Kobushi-Magnolie und der Purpur-Magnolie einen medizinischen Vorzug einräumen.

Um die antiallergisch wirksamen, schlecht wasserlöslichen Bisepoxylignane einigermaßen gut in Lösung zu bekommen, wird man anstelle der traditionellen Zubereitung als kurze Aufkochung besser ein Dekokt zubereiten. Dann sollte die untere Tagesdosis von 3 Gramm ausreichen, während sonst bis zu 10 Gramm empfohlen werden. In jedem Fall sollte ein Leinenbeutel für die Teezubereitung oder ein Kaffeefilter zum Abseihen verwendet werden, um eine mechanische Reizwirkung der Knospenhaare bei der Einnahme auszuschließen.

Bereits der erste Schluck Tee offenbart das in der TCM beschriebene warm-scharfe, zerstreuende und „die Oberfläche öffnende“ Wesen der Arznei. Dazu passt die verstopfte Nase mit oder ohne weißem Sekretfluss als wichtiges klinisches Zeichen für eine Anwendung.
In der therapeutischen Praxis sollte man die Magnolienknopse vornehmlich als Akutmittel bei allergischer Rhinitis mit Beteiligung der Augen und Nasennebenhöhlen ähnlich einem synthetischen Antihistaminikum verwenden und mit sinnvollen, sich am Beschwerdebild orientierenden Ergänzungs- und Hilfsarzneien kombinieren.

Biond‘s-Magnolienknospen und ihre Abkochung. Um die wertbestimmenden, schlecht wasserlöslichen Bisepoxylignane der Droge einigermaßen in Lösung zu bekommen, bedarf es einer Abkochung und nicht der traditionell üblichen Zubereitung als Heißwasseraufguss. Biond’s Magnolie ist eine der gebräuchlichsten und antiallergisch wirksamsten Stammpflanzen zur Gewinnung von „Yin Xi Hua“.

Zur Orientierung können dem Therapeuten die folgenden Rezepturen dienen:

Abb. oben: Die Rezeptur kombiniert drei Drogen mit Spezifität für die Nase und Stirn in der TCM. Die ersten beiden Bestandteile wirken über eine Stabilisierung von Mastzellen antihistaminisch. Pfefferminze gilt in der TCM als „Oberfläche öffnende“ Arznei und wird bei Obstruktion der Nase gerne als Hilfsarznei genutzt. Die Spitzklette ist aber keine unproblematische Droge und sollte nur in vorbehandelter Form bei klarer Indikationsstellung genutzt werden. (©Vogt)
Abb. oben: Mit der Sibirischen Engelwurz und der Magnolie enthält das Rezept zwei bekannte Mastzellenstabilisatoren. Saposhnikovia wirkt regulatorisch auf die bei allergischen Erkrankungen erhöhte Aktivität von TH2-Lymphozyten. Da 50% der Patienten mit allergischer Rhinitis bereits eine krankhafte Sensibilität der Bronchien besitzen, dient das Baikal-Helmkraut als prophylaktisches Antiasthmatikum. Es ist auch bei Wechsel von weißem zu gelbem Auswurf traditionell indiziert. Für Süßholz konnte ebenfalls eine antiasthmatische und epithelprotektive Wirkung nachgewiesen werden, zudem dient es als Lösungsvermittler und Geschmackskorrigenz. (©Vogt Dietmar)

Plädoyer für lange Nasen

Für die magistrale Rezeptur, also für die individuelle Arzneimittelzusammenstellung, steht derzeit in ganz Europa keine einzige heimische Arzneipflanze mit allergischer Rhinitis als anerkannte Indikation zur Verfügung. Auch die experimentelle Forschung hat mit wenigen Ausnahmen bisher keine wesentlichen antiallergischen Wirkprinzipien in der heimischen Flora freigelegt oder systematisch untersucht. Demgegenüber nutzt die traditionelle chinesische Medizin bei klarer Indikationsstellung seit Jahrhunderten Pflanzen mit spezifischer Wirkung auf allergische Signalwege. In den Industrienationen leiden mittlerweile rund 10% der Bevölkerung an allergischer Rhinitis, wobei sich durch Mitbeteiligung der Bronchien bei einem Drittel im Laufe des Lebens auch allergisches Asthma manifestiert.
In den USA begegnete man dem wachsenden Bedarf an antiallergisch wirksamen Pflanzenprinzipien mit einer systematischen Aufarbeitung asiatischer Medizintraditionen, um am Ende Arzneipflanzen wie Mongolischer Tragant, Süßholz, Seidenakazie, bestimmte Engelwurzarten oder z.B. die Magnolie für die moderne Phytotherapie zu gewinnen.

So lange die Europäer ihre heimische Flora nicht besser verstanden haben, sollten sie vielleicht den ungewohnten Griff in den exotischen Zierpflanzengarten wagen und Magnolienknospen einmal trinken, anstatt nur dusselig auf das Öffnen der Blüte zu warten.

Neugierige Nasen wünscht Euch Phytagoras!