Der Alpenindianer und seine Knospen

Abb. oben: Oh Du bunte Winterszeit! Der „Bronze-Look“ verrät ein Ölweidengewächs mit charakteristischen, metallisch erscheinenden Schülferhaaren auf Knospen und junger Rinde. Die „Rote Schlehe“, wie der Sanddorn (Hippophae rhamnoides) volkstümlich auch genannt wird, war einst eine angesehene Augenheilpflanze für Pferde. (Foto: ©Vogt)

Mit dem Winter beginnt die spannendste Zeit für den „Alpenindianer“. Von der Hügel- bis in die Subalpinstufe legen Bäume und Sträucher mit ihren arttypischen Überdauerungsorganen, den Winterknospen, bizarre und bunte „Fährten“. Während viele Pflanzeninteressierte erst mit dem Läuten der ersten „Märzenbecher“ aus dem Winterschlaf erwachen, benötigt der Knospenjäger gerade in der stillsten Zeit des Jahres die wachsamsten Augen. „Was knospet denn da?“, lautet die unvermeidliche Frage beim Winterspaziergang.

Abb. oben: Ein 11-äugiger Alien in Lauerstellung? In gewisser Weise ja, denn die Seitenknospe dieses aus Nordchina eingebürgerten Götterbaumes (Ailanthus altissimus) wartet geduldig auf innere und äußere „Startsignale“. Irgendwann werden die beiden rotbraunen, an der Basis grünlichen Knospenschuppen für einen neuen Trieb weichen. Die Familie der Bittereschengewächse liefert interessante Heilpflanzen wie z.B. das von Black Carib-Indios gegen Fieberinfekte, Amöbenruhr und Schlangenbisse genutzte Surinam-Bitterholz, welches zu den bittersten Drogen der Welt gehört. (Foto: ©Vogt)

Ersatzgerät oder Reparatur?

Ein wenig neidisch darf man auf unserer Gehölze mit ihrer Verjüngungsfähigkeit durchaus sein: Verliert man dummerweise seine Ernährungsorgane oder haben die Fortpflanzungsorgane ausgedient, kommen diese an anderer Stelle in Form neuer Blatt- oder Blütenknospen wieder hervor. Den Quell „ewiger Jugend“ bescheren dabei sogenannte Meristeme, also Gewebebezirke mit teilungsfähigen und noch nicht differenzierten, omni- bis pluripotenten Zellen. Der Trick funktioniert aber nur dann, wenn die Pflanze mindestens im Vorjahr entsprechende Blatt- oder Achseltriebprimordien vorausschauend angelegt hat und diese mittels spezialisierten Blättern, sogenannten Knospenschuppen, bis zum „Startschuss“ schützt. Die Position zukünftiger Knospen kann dabei aber nicht nach ökologischer Sinnhaftigkeit oder Laune frei am Spross gewählt werden, sondern beschränkt sich ausschließlich auf die Blattachseln.

Abb. oben: Gut eingepackt hat hier eine Echt-Mehlbeere (Sorbus aria) ihr „Allerheiligstes“. Das flauschige „Verpackungsmaterial“ kommt von spezialisierten Niederblättern, sogenannten Knospenschuppen, welche das noch nicht ausdifferenzierte Gewebe im Inneren dieser Seitenknospe schützen. Bis zur Fruchtreife der „Malzennasen“, wie die Apfelfrüchte im Volksmund bezeichnet werden, und ihrer möglichen Verwendung als Streckmehl wird man sich noch gedulden müssen. (Foto: ©Vogt)
Abb. oben: Das ursprüngliche Tragblatt für den Kurztrieb dieser Berberitze (Berberis vulgaris) wehrt in Form eines Blattdorns noch immer pflichtbewusst ungeladene Gäste ab. Der Vertreter der Hahnenfußartigen führt hier vor, dass es bei Samenpflanzen eine feste Lagebeziehung zwischen Seitenachse und Blatt gibt. Unter der sich öffnenden Knospe sieht man Narben und Kissen längst abgefallener Blätter. Das daraus resultierende Muster belegt, dass auch Blätter nicht „irgendwie“, sondern nach festen Gesetzen von Alternanz und Äquidistanz zueinander stehen. (Foto: ©Vogt)

Anders als bei der Pflanze ist der Großteil der etwa 75.000 Milliarden Zellen des erwachsenen Menschen ausdifferenziert und nur auf eine bestimmte Aufgabe „programmiert“. Aus der Teilung dieser unipotenten Zellen geht stets nur derselbe Zelltypus hervor. Ein universelles „Ersatzteillager“ im Sinne pflanzlicher Meristeme gibt es nicht. Stattdessen besitzen wir deutlich komplexere zelluläre Reparatur- und Recyclingmechanismen wie z.B. Autophagie („intrazelluläre Selbstverdauung“) oder Apoptose („programmierten Zelltod“), um „jung“ zu bleiben. Man kann darüber streiten, welche der beiden „Juvenilisierungsstrategien“ – Austausch oder Reparatur –  die bessere ist. In beiden Fällen hinterlässt das Alter jedoch verräterische Spuren. Zum Beispiel liefern die nach dem Laubfall entstandenen Blattnarben durch Lage, Form, Farbe und sogenannte „Spuren“ der einstigen Leitbündel einen wichtigen Hinweis auf die vorliegende Pflanzenart.

Abb. oben: Nur äußerst selten besitzen Blattnarben nur 2 Leitbündel-Spuren, wie hier bei diesem „lebenden Fossil“, dem Ginkgo. Das Bild links zeigt einen mehrjährigen Kurztrieb mit dicht gedrängten Blattnarben. Die Rinde des Langtriebes ist grau-silbrig und längsrissig. Nur wenige Kräuterkundige wissen, dass selbst hergestelte Zubereitungen aus spät geernteten Blättern und Früchten nicht neuroprotektiv, sondern durch Gingkolsäuren und Methylpyridoxin umgekehrt neurotoxisch wirken können. Tinkturen sind dabei gefährlicher als Teemischungen. Das Verschenken eigener Zubereitungen als „Gedächtnishilfe“ ist unverantwortlich und zahlreiche nicht-standardisierte Internetprodukte werden gesetzwidrig beworben und in Verkehr gebracht. (Foto: ©Vogt)

Fährtenlesen hoch über dem Boden

Die Kombination aus Blattspur, Größe der Knospe, Stellung zur Abstammungsachse (abstehend, aufrecht, anliegend), Knospengestalt (ellipsoid, eiförmig, eilanzettlich, kegelig, pyramidal, abgeflacht, entenschnabelförmig, etc.) sowie Anzahl und Beschaffenheit der umhüllenden Knospenschuppen (drüsig, harzig, glatt, behaart, bewimpert, Anzahl, etc.) liefert einen „Fingerabdruck“ der Pflanzenart. Zu beachten sind standortsabhängige und endogene Variabilität von Farben und meist morphologische Unterschiede zwischen Blatt- und Blütenknospen. Auch Rinde und Borke liefern wichtige Indizien und wenn man vollkommen daneben steht, sucht man mit verstohlenem Blick den Boden nach alten Blättern ab.

Abb. oben: Hier verraten die beiden mit dem Blattstiel beständig verwachsenen Nebenblätter eindeutig die Weidenart. Dieses Merkmal der Reif-Weide (Salix daphnoides) ist verlässlicher als die oft ausbleibende oder undeutliche Bereifung der jungen Rinde und führt uns zu einem unserer potentesten Lieferanten für entzündungshemmende Salicylate. (Foto: ©Vogt)
Abb. oben: Verräterische Schuppe: Während alle heimischen Weiden ihre Blatt- und Sprossprimordien mit nur einer Knospenschuppe schützen, bildet die Bruch-Weide (Salix euxina) eine zweite, „innere“ Schuppe aus. Das Bestimmen von Weiden kann zur Abwechslung auch einfach sein und führt in diesem Fall zu einer „Salicylat-Hochleistungspflanze“. (Foto: ©Vogt)

Heidschi Bumbeidschi für die Knospe

Heimische Gehölze entwickeln ihre Erneuerungsknospen bereits in der zweiten Hälfte der Vegetationsperiode und ein vorzeitiges Austreiben vor der Winterruhe muss unterbunden werden. Das hormonelle „Schlaflied“ kommt vorrangig vom Ende der Sprossachse aus dem Spitzenmeristem in Form sogenannter Auxine, aber auch die Wurzel steuert einige für Ruhe sorgende „Töne“ (z.B. Strigolactone) bei. In den Mittelbreiten endet die Vollruhe für viele zur Zeit der Wintersonnenwende, wenn das notwendige Kältebedürfnis erfüllt wurde. Von nun an hemmen immer weniger endogene Faktoren, sondern ungünstige Witterungsverhältnisse die Blühbereitschaft. Zunehmende Tageslänge und Wärmesumme fördern die Freisetzung aktivitätsfördernder Gibberelline und Cytokinine. Das hormonelle „Aufwecklied“ führt am Ende zur Aktivierung bestimmter Gene im ruhenden Knospengewebe. Etwa zur gleichen Zeit beginnen Reservestoffmobilisierung und Verlagerung des Aminosäure-Pools von Speichergeweben in Ästen und Stamm zu den Knospen.

Abb. oben: Rund 30 Jahre muss eine Berg-Ulme (Ulmus glabra) alt werden, um in die reproduktive Phase mit Ausbildung der ersten Blütenknospen einzutreten. Neben einer „inneren Uhr“ bestimmen auch sekundäre Faktoren wie ein günstiges Kohlenstoff-Stickstoff-Verhältnis oder ein Minimum angelegter Blattprimordien den Übergang. Die Ulme besitzt ausschließlich eiförmig zugespitzte Seitenknospen mit rot- bis schwarzbraunen Knospenschuppen. Die Narben sind 3-spurig und auch die einstigen Ansatzstellen von Nebenblättern sind erkennbar. In der Erfahrungsheilkunde wird die innere Rinde einiger Ulmenarten (z.B. U. rubra, U. americana) als reizlindernde Schleimdroge bei Entzündungen von Haut- und Schleimhäuten (z.B. Gastritis, Diverticulitis, Diarrhöe) genutzt. (Foto: ©Vogt)

Vier Rätsel für den Alpen-Indianer

1. Rätsel

Abb. oben: Rechts im Bild sieht man eine typische, stets als Seitenknospe entwickelte Blütenknospe des Strauches mit eilanzettlicher Gestalt und hellgrünen, gegen den Rand bräunlich gefärbten Knospenschuppen. Die halbkugeligen Blattknospen (Bildmitte, frontal!) sind um ein Vielfaches kleiner und mit braunen Knospenschuppen bedeckt. Gut zu erkennen ist die 1-spurige Blattnarbe. Die Endknospe ist kegelförmig zugespitzt und besitzt mehrere braune Knospenschuppen. (Foto: ©Vogt)

Mit Zweigen dieser Pflanze peitschten einst Bauern ihre Kühe vor dem Almauftrieb, um den Milchschelm und andere unsichtbare Unholde vor dem Mitreiten auf die Hochweide abzuhalten. Mit diesem alpenländischen Ritual wollte man letztlich Schutz für die Tiere und einen guten Milchertrag erbitten. Allerdings konnte man sich bei dem Brauch auch gewaltig die Finger verbrennen, denn die hochtoxische Pflanze besitzt in der Rinde einen stark hautreizenden und blasenziehenden Diterpenester. Diese Wirkung nutzte man einst auch in der Heilpflanzenkunde zur „Ableitung“ rheumatischer Schmerzen durch äußere Anwendung. Man glaubte, dass körpereigene Giftstoffe an die Oberfläche „gezogen“ und dabei wichtige Organe „entlastet“ werden. Da das Gift gut durch die Haut permeiert und Nervensystem und Nieren stark schädigen kann, ist die Anwendung als sogenannter „Counterirritant“ strikt abzulehnen. Die wahrscheinlich älteste Nutzung des „Zeilands“, wie das Spatzenzungengewächs auch bezeichnet wird, galt der Herstellung von besonders wertvollem und dokumentensicherem Papier für Urkunden, die Grund des Gehaltes an Daphnetoxin und Mezerein gegen Schadfraß geschützt waren.
Wer hat den namensgleichen Strauch der Nymphe Daphne sofort erkannt?

2. Rätsel

Abb. oben: Zunächst fallen einem die bernsteinfarbenen Drüsen und die langen weißen Haare auf. Auch der Größenunterschied zwischen Endknospe und Seitenknospe (=Blattknospe) ist beeindruckend. Die 1-spurige Blattnarbe des letzten Jahres ist schön zu erkennen. Was steckt sich wohl unter der eiförmig zugespitzten Endknospe mit den gelbgrünen Knospenschuppen? (Foto: ©Vogt)

Wer sich im Gebirge vor Unwetter schützen möchte, sollte sich einen „Bruch“ dieser Pflanze auf die linke Seite seines Hutes stecken, so ein alter Glaube der Säumer und Hirten in manchen Alpenregionen. Damit sollten Jochgeister und Wetterhexen abgewehrt werden, denn die gesuchte Pflanze ist dem heiligen Oswald, dem Wetterherrn und einem ursprünglichen Schutzpatron der Bergleute geweiht. Ob der „echte“ Oswald, ein Kreuzritter und angelsächsischer König aus dem 7. Jahrhundert, jemals etwas mit dem gesuchten Heidekrautgewächs zu schaffen gehabt hat, bleibt ein Geheimnis. Gefreut hätte er sich aber bestimmt darüber, wenn ein typischer Strauch der subalpinen Zwergstrauchheide einmal als „Oswaldstaudn“ angesprochen wird.

Im Alpenraum wurde die Pflanze einst als Analgetikum bei rheumatischen Beschwerden und als Sirup gegen Atemwegskatarrhen genutzt. Beide Anwendungen sind auf Grund neurotoxischer Grayanotoxine zwar pharmakologisch nachvollziehbar, wegen der geringen therapeutischen Breite entspricht aber jede spürbare Wirkung bereits den Beginn einer Vergiftung.
Wer hat die berühmteste „Rose“ der Alpen erkannt?

3. Rätsel

Abb. oben: Pflanze mit Herz? Sofort stechen die mächtigen, herz- bis wappenförmigen Blattnarben mit 3 Spuren ins Auge. Während die Endknospe mehr kegelförmig ist, sind die Seitenknospen halbkugelförmig. Rinde und Knospenschuppen sind mit kurzen Krummhaaren zerstreut bis dicht bedeckt. Typisch ist die Ausbildung rundlicher bis ellipsoider sog. „absteigender Beiknospen“ unterhalb der Seitenknospen. Zwei auf einmal in nur einer Blattachsel? Ist das erlaubt? Die scheinbare Abweichung vom Gesetzt der axillären Verzweigung kommt dadurch zustande, dass sich das Achselmeristem im Zuge des Wachstums teilt und eben 2 oder mehrerer Primordien in der Achsel eines Tragblattes entstehen. Auch die Himbeere kennt den Trick mit absteigenden Beiknospen, während Heckenkirschen-Arten dasselbe Spiel „nach oben“ machen und sog. „aufsteigende Beiknospen“ ausbilden. (Foto: ©Vogt)

Die Cherokee, Comanchen und mindestens drei weitere nordamerikanische Indianerstämme nutzten die innere Rinde dieses bis 25 Meter hohen, seit dem 19. Jhd. in Europa eingebürgerten Baumes gegen verschiedene Hautleiden, darunter vor allem Pilzinfektionen. In der Zwischenzeit konnte für das germacrenreiche ätherische Öl eine fungistatische Wirkung nachgewiesen werden und durch die rund 10% Gerbstoffen aus der Gruppe der Elagtannine ist eine adstringierende, entzündungshemmende und juckreizstillende Wirkung plausibel. Auch mäßig fungitoxisch wirkenden Naphtochinone ergänzt das antimikrobielle Gesamtpotential.

In einer jüngsten tierexperimentellen Studie erzielte eine 4%-ige Zubereitung aus unreifen Fruchtschalen der Pflanze nach einer Woche Anwendung dieselbe Wirkung gegen Infektionen mit Candida albicans, einem Haupterreger für Genitalmykosen, wie eine handelsübliche 1%-ige Clotrimazol Creme (z.B. Candibene, Canesten)! Man kann sich von den Indianern also ganz schön was abschauen!
Wer hat die nordamerikanische „Nuss“ auf Anhieb geknackt?

4. Rätsel

Abb. oben: Eilanzettliche Knospen mit an der Basis grünen, gegen den Rand zu hellbraunen und behaarten Knospenschuppen: Zu wenig spindelförmig und zu wenige Knospenschuppen für eine Hainbuche und zu wenig kugelförmig für eine Hasel. Zudem sind die erhabenen Lentizellen orange-braun gefärbt. Die Familie der Birkengewächse stimmt aber! (Foto: ©Vogt)

Im Regelfall glaubt der Wanderer an Hainbuchen vorbeizulaufen, wenn erst einmal die Blätter mit eilanzettlichen Blattspreiten und scharf doppelt gesägtem Blattrand entfaltet sind. Die dunkle rissige und sich in Platten ablösende Borke älterer Bäume und auch der Fruchtstand verraten aber eine submediterrane Pflanze, die ein kleines Vorkommen in der Steiermark und in Nord-Tirol besitzt. Nur in Süd-Kärnten und in Süd-Tirol kann man das Birkengewächs relativ häufig antreffen. In den Südkarawanken findet man die ausschlagfähige Pionierpflanze auch in steilen Kalkschutthalden, wo sie gemeinsam mit Weidenarten, darunter vor allem mit der Glanz-Weide, Lege-Föhre, Wimper-Alpenrose und der Blumen-Esche zur Bodenfestigung beiträgt und als Steinschlagschutz eine herausragende Rolle einnimmt.
Wer hat die einst als „Schwarzbuche“ bezeichnete Pflanze erkannt?

Lösungen:

(1) Echt-Seidelbast (Daphne mezereum)

(2) Wimper-Alpenrose (Rhododendron hirsutum)

(3) Schwarz-Walnuss (Juglans nigra)

(4) Europa-Hopfenbuche (Ostrya carpinifolia).

Wer seinen Blick noch weiter schärfen möchte, gelangt über den Button zu einem „Flip-Flop“-Training mit einer Auswahl heimischer Winterknospen:

Viel Spaß bei der winterlichen Spurensuche und anständiges Staunen vor dem Wunder „Knospe“ wünscht Phytagoras!