Der Alpenindianer und seine Knospen
Mit dem Winter beginnt die spannendste Zeit für den „Alpenindianer“. Von der Hügel- bis in die Subalpinstufe legen Bäume und Sträucher mit ihren arttypischen Überdauerungsorganen, den Winterknospen, bizarre und bunte „Fährten“. Während viele Pflanzeninteressierte erst mit dem Läuten der ersten „Märzenbecher“ aus dem Winterschlaf erwachen, benötigt der Knospenjäger gerade in der stillsten Zeit des Jahres die wachsamsten Augen. „Was knospet denn da?“, lautet die unvermeidliche Frage beim Winterspaziergang.
Ersatzgerät oder Reparatur?
Ein wenig neidisch darf man auf unserer Gehölze mit ihrer Verjüngungsfähigkeit durchaus sein: Verliert man dummerweise seine Ernährungsorgane oder haben die Fortpflanzungsorgane ausgedient, kommen diese an anderer Stelle in Form neuer Blatt- oder Blütenknospen wieder hervor. Den Quell „ewiger Jugend“ bescheren dabei sogenannte Meristeme, also Gewebebezirke mit teilungsfähigen und noch nicht differenzierten, omni- bis pluripotenten Zellen. Der Trick funktioniert aber nur dann, wenn die Pflanze mindestens im Vorjahr entsprechende Blatt- oder Achseltriebprimordien vorausschauend angelegt hat und diese mittels spezialisierten Blättern, sogenannten Knospenschuppen, bis zum „Startschuss“ schützt. Die Position zukünftiger Knospen kann dabei aber nicht nach ökologischer Sinnhaftigkeit oder Laune frei am Spross gewählt werden, sondern beschränkt sich ausschließlich auf die Blattachseln.
Anders als bei der Pflanze ist der Großteil der etwa 75.000 Milliarden Zellen des erwachsenen Menschen ausdifferenziert und nur auf eine bestimmte Aufgabe „programmiert“. Aus der Teilung dieser unipotenten Zellen geht stets nur derselbe Zelltypus hervor. Ein universelles „Ersatzteillager“ im Sinne pflanzlicher Meristeme gibt es nicht. Stattdessen besitzen wir deutlich komplexere zelluläre Reparatur- und Recyclingmechanismen wie z.B. Autophagie („intrazelluläre Selbstverdauung“) oder Apoptose („programmierten Zelltod“), um „jung“ zu bleiben. Man kann darüber streiten, welche der beiden „Juvenilisierungsstrategien“ – Austausch oder Reparatur – die bessere ist. In beiden Fällen hinterlässt das Alter jedoch verräterische Spuren. Zum Beispiel liefern die nach dem Laubfall entstandenen Blattnarben durch Lage, Form, Farbe und sogenannte „Spuren“ der einstigen Leitbündel einen wichtigen Hinweis auf die vorliegende Pflanzenart.
Fährtenlesen hoch über dem Boden
Die Kombination aus Blattspur, Größe der Knospe, Stellung zur Abstammungsachse (abstehend, aufrecht, anliegend), Knospengestalt (ellipsoid, eiförmig, eilanzettlich, kegelig, pyramidal, abgeflacht, entenschnabelförmig, etc.) sowie Anzahl und Beschaffenheit der umhüllenden Knospenschuppen (drüsig, harzig, glatt, behaart, bewimpert, Anzahl, etc.) liefert einen „Fingerabdruck“ der Pflanzenart. Zu beachten sind standortsabhängige und endogene Variabilität von Farben und meist morphologische Unterschiede zwischen Blatt- und Blütenknospen. Auch Rinde und Borke liefern wichtige Indizien und wenn man vollkommen daneben steht, sucht man mit verstohlenem Blick den Boden nach alten Blättern ab.
Heidschi Bumbeidschi für die Knospe
Heimische Gehölze entwickeln ihre Erneuerungsknospen bereits in der zweiten Hälfte der Vegetationsperiode und ein vorzeitiges Austreiben vor der Winterruhe muss unterbunden werden. Das hormonelle „Schlaflied“ kommt vorrangig vom Ende der Sprossachse aus dem Spitzenmeristem in Form sogenannter Auxine, aber auch die Wurzel steuert einige für Ruhe sorgende „Töne“ (z.B. Strigolactone) bei. In den Mittelbreiten endet die Vollruhe für viele zur Zeit der Wintersonnenwende, wenn das notwendige Kältebedürfnis erfüllt wurde. Von nun an hemmen immer weniger endogene Faktoren, sondern ungünstige Witterungsverhältnisse die Blühbereitschaft. Zunehmende Tageslänge und Wärmesumme fördern die Freisetzung aktivitätsfördernder Gibberelline und Cytokinine. Das hormonelle „Aufwecklied“ führt am Ende zur Aktivierung bestimmter Gene im ruhenden Knospengewebe. Etwa zur gleichen Zeit beginnen Reservestoffmobilisierung und Verlagerung des Aminosäure-Pools von Speichergeweben in Ästen und Stamm zu den Knospen.
Vier Rätsel für den Alpen-Indianer
1. Rätsel
Mit Zweigen dieser Pflanze peitschten einst Bauern ihre Kühe vor dem Almauftrieb, um den Milchschelm und andere unsichtbare Unholde vor dem Mitreiten auf die Hochweide abzuhalten. Mit diesem alpenländischen Ritual wollte man letztlich Schutz für die Tiere und einen guten Milchertrag erbitten. Allerdings konnte man sich bei dem Brauch auch gewaltig die Finger verbrennen, denn die hochtoxische Pflanze besitzt in der Rinde einen stark hautreizenden und blasenziehenden Diterpenester. Diese Wirkung nutzte man einst auch in der Heilpflanzenkunde zur „Ableitung“ rheumatischer Schmerzen durch äußere Anwendung. Man glaubte, dass körpereigene Giftstoffe an die Oberfläche „gezogen“ und dabei wichtige Organe „entlastet“ werden. Da das Gift gut durch die Haut permeiert und Nervensystem und Nieren stark schädigen kann, ist die Anwendung als sogenannter „Counterirritant“ strikt abzulehnen. Die wahrscheinlich älteste Nutzung des „Zeilands“, wie das Spatzenzungengewächs auch bezeichnet wird, galt der Herstellung von besonders wertvollem und dokumentensicherem Papier für Urkunden, die Grund des Gehaltes an Daphnetoxin und Mezerein gegen Schadfraß geschützt waren.
Wer hat den namensgleichen Strauch der Nymphe Daphne sofort erkannt?
2. Rätsel
Wer sich im Gebirge vor Unwetter schützen möchte, sollte sich einen „Bruch“ dieser Pflanze auf die linke Seite seines Hutes stecken, so ein alter Glaube der Säumer und Hirten in manchen Alpenregionen. Damit sollten Jochgeister und Wetterhexen abgewehrt werden, denn die gesuchte Pflanze ist dem heiligen Oswald, dem Wetterherrn und einem ursprünglichen Schutzpatron der Bergleute geweiht. Ob der „echte“ Oswald, ein Kreuzritter und angelsächsischer König aus dem 7. Jahrhundert, jemals etwas mit dem gesuchten Heidekrautgewächs zu schaffen gehabt hat, bleibt ein Geheimnis. Gefreut hätte er sich aber bestimmt darüber, wenn ein typischer Strauch der subalpinen Zwergstrauchheide einmal als „Oswaldstaudn“ angesprochen wird.
Im Alpenraum wurde die Pflanze einst als Analgetikum bei rheumatischen Beschwerden und als Sirup gegen Atemwegskatarrhen genutzt. Beide Anwendungen sind auf Grund neurotoxischer Grayanotoxine zwar pharmakologisch nachvollziehbar, wegen der geringen therapeutischen Breite entspricht aber jede spürbare Wirkung bereits den Beginn einer Vergiftung.
Wer hat die berühmteste „Rose“ der Alpen erkannt?
3. Rätsel
Die Cherokee, Comanchen und mindestens drei weitere nordamerikanische Indianerstämme nutzten die innere Rinde dieses bis 25 Meter hohen, seit dem 19. Jhd. in Europa eingebürgerten Baumes gegen verschiedene Hautleiden, darunter vor allem Pilzinfektionen. In der Zwischenzeit konnte für das germacrenreiche ätherische Öl eine fungistatische Wirkung nachgewiesen werden und durch die rund 10% Gerbstoffen aus der Gruppe der Elagtannine ist eine adstringierende, entzündungshemmende und juckreizstillende Wirkung plausibel. Auch mäßig fungitoxisch wirkenden Naphtochinone ergänzt das antimikrobielle Gesamtpotential.
In einer jüngsten tierexperimentellen Studie erzielte eine 4%-ige Zubereitung aus unreifen Fruchtschalen der Pflanze nach einer Woche Anwendung dieselbe Wirkung gegen Infektionen mit Candida albicans, einem Haupterreger für Genitalmykosen, wie eine handelsübliche 1%-ige Clotrimazol Creme (z.B. Candibene, Canesten)! Man kann sich von den Indianern also ganz schön was abschauen!
Wer hat die nordamerikanische „Nuss“ auf Anhieb geknackt?
4. Rätsel
Im Regelfall glaubt der Wanderer an Hainbuchen vorbeizulaufen, wenn erst einmal die Blätter mit eilanzettlichen Blattspreiten und scharf doppelt gesägtem Blattrand entfaltet sind. Die dunkle rissige und sich in Platten ablösende Borke älterer Bäume und auch der Fruchtstand verraten aber eine submediterrane Pflanze, die ein kleines Vorkommen in der Steiermark und in Nord-Tirol besitzt. Nur in Süd-Kärnten und in Süd-Tirol kann man das Birkengewächs relativ häufig antreffen. In den Südkarawanken findet man die ausschlagfähige Pionierpflanze auch in steilen Kalkschutthalden, wo sie gemeinsam mit Weidenarten, darunter vor allem mit der Glanz-Weide, Lege-Föhre, Wimper-Alpenrose und der Blumen-Esche zur Bodenfestigung beiträgt und als Steinschlagschutz eine herausragende Rolle einnimmt.
Wer hat die einst als „Schwarzbuche“ bezeichnete Pflanze erkannt?
Lösungen:
(1) Echt-Seidelbast (Daphne mezereum)
(2) Wimper-Alpenrose (Rhododendron hirsutum)
(3) Schwarz-Walnuss (Juglans nigra)
(4) Europa-Hopfenbuche (Ostrya carpinifolia).
Wer seinen Blick noch weiter schärfen möchte, gelangt über den Button zu einem „Flip-Flop“-Training mit einer Auswahl heimischer Winterknospen:
Viel Spaß bei der winterlichen Spurensuche und anständiges Staunen vor dem Wunder „Knospe“ wünscht Phytagoras!