Suche nach dem antiviralen Gral (Teil 1)

Im Reich heilsamer Zucker

Abb. oben: Auch ohne Kenntnis von Viren und unsichtbaren Erregern galt unsere Heilwurz (Libanotis pyrenaica) in der Renaissance als Panazee („Allheilpflanze“). Sie wurde Grund erkennbar warm-trockenen und scharfen Wesenseigenschaften „wider das Gift“ und „wider die Pestilenz“ bei kalt-feuchten Beschwerden verwendet. Ist das naiv? Wie viel Wissen braucht es über ein infektiöses Agens, um eine wirksame Arznei zu finden? (Foto: ©Vogt)

Wenn Diebe um das Haus schleichen, kann man schon nervös werden. Doch ist das Absägen der Haustürklinke oder das Zunageln des Kellerfensters ausreichend schlau, wenn ein Einstieg über den Balkon und die Flucht über die Garage ebenfalls gelingen könnten? So würde man einem Volksschüler vielleicht Wirkung und Problematik sogenannter Entry-Inhibitoren und Virus-Freisetzungshemmern in antiviralen Medikamenten veranschaulichen, welche das Andocken von Viren an bestimmten Oberflächenfaktoren oder das Verlassen der Wirtszelle hochspezifisch hemmen.

Auf unserem Planeten sind derzeit rund 3.000 Viren (exkl. Serotypen) beschrieben, aber ein aktuelles Forschungsprojekt der Universität Pittsburgh kommt zur Erkenntnis, dass „das virale Universum deutlich größer und diverser als bisher angenommen ist“. Doch nicht die absolute Zahl, sondern die enorme Wandelbarkeit viraler Erbinformationen stellt die Medizin vor eine Herausforderung. Trotz steigendem technischen Aufwand und immer tiefer reichende Einsicht in immunologische Abläufe bleibt das Grundprinzip antiviraler Arzneimittel unverändert monoton: Die einseitig mechanistische Hemmung eines erregerspezifischen Schlüsselprozesses. Hätten die Schlangendoktoren der Miskito-, Black Carib- oder Rama-Indios gegen jedes infektiöse Agens in den zentralamerikanischen Tropen, gegen unzählige Amöben, Bakterien, Protozoen, Würmer und Viren, jeweils eine auf den Erreger ausgerichtete Arznei benötigt, wären die Ethnien vermutlich bereits vor Jahrhunderten ausgestorben. Wo aber dann, wenn nicht direkt am Erreger, greifen die Heilmittel dieser „Wilden“ an?

Die drei Hauptanwendungsgebiete für Triebspitzen des Riesen-Lebensbaumes (Thujae plicatae summitate) in der nordamerikanischen Indianermedizin – Fieberinfekte, rheumatische Beschwerden und Hautleiden – führen uns nicht zur erhofften antiviralen Wunderpflanze, sondern zu einer das Wunder Immunsystem stimulierenden Pflanze. (Foto: ©Vogt)

Der Lebensbaum als Wegweiser

Wenn die Wilden mit Fieber krank oder von anderen inneren Krankheiten verfolgt sind, nehmen sie die Blätter eines Baumes, der den Zedern sehr ähnlich ist (…) und nehmen den Saft, den sie trinken“, überliefert der Franziskanerpater Andre Thevet die ethnobotanische Verwendung von Triebspitzen der Gattung Lebensbaum (Thuja) bei den kanadischen Huronen im 16. Jahrhundert. Die Makah-, Quinault- und Skagit-Indianer nutzen bei Fieberinfekten vornehmlich den Riesen-Lebensbaum (Thuja plicata) in Form einer Abkochung, während Irokesen, Micmac und Ojibwa bei gleicher Indikation den Amerika-Lebensbaum (T. occidentalis) nicht nur als Tee, sondern auch zur Inhalation in Schwitzhütten verwenden. Eine pharmakologische Begründung der Anwendung kam am Ende des 20. Jhd. von der Mikrobiologie, welche die direkt antivirale Wirkung eines für die Gattung Lebensbaum typischen Lignans, dem Deoxypodophyllotoxin, sowie des im ätherischen Öl enthaltenen β-Thujons nachwies. Doch was wurde damit aufgeklärt? Auf Grund der zellteilungshemmenden und neurotoxischen Wirkung sind beide Naturstoffe in Reinform für den klinischen Einsatz einer systemisch-antiviralen Therapie unbrauchbar. Zudem kann das wasserunlösliche Lignan keine Wirkung in Teezubereitungen der Indianermedizin begründen, während die in einem Dekokt nur mehr in Spuren nachweisbaren ätherischen Öle kein ausreichend direkt antivirales Prinzip im Körper vermitteln können. Was aber half den vorgenannten Wilden aus dem Arbor vitae selbst dann, „wenn es tief im Körper eingewurzelt ist (…)“, wenn nicht direkte Wirkmechanismen?

Abb. oben: Tee oder Fertigpräparat? In der rationalen Phytotherapie gilt die innere Einnahme eines aus Amerika-Lebensbaumtriebspitzen (Thujae occidentalis summitate) bereiteten Tees als obsolet und nebenwirkungsreich, auch wenn bei der einst vorgeschlagenen Tagesdosis von rund 3g für Erwachsene die noch als unbedenklich geltende Obergrenze von 1,25mg Thujon pro kg Körpergewicht kaum erreicht werden kann. Folgt man der Herstellerempfehlung, liegt beim bekannten Pflanzenpräparat „Esberitox“ der Anteil täglich eingenommener Droge nur bei 18mg. Im Kombinationspräparat reicht das aus, um in klinischen Studien eine signifikante Verlaufsverbesserung bei Infekten der oberen Atemwege zu erzielen. (Foto: ©Vogt)

Ein zielgenauer Streifschuss

Für die traditionelle Anwendung der Gattung Thuja spielt keine durch Lignane oder ätherische Öle viruzide, sondern eine durch „harmlose“ Zuckerverbindungen induzierte immunstimulierende Wirkung die wesentliche Rolle. Vor allem die zur Erkennung von Antigenen befähigten und dadurch die adaptive Immunantwort einleitenden T-Helferzellen unseres Immunsystems werden durch Thuja-Polysaccharide (TPS) besonders stark angeregt und reagieren mit der Ausschüttung von Signalproteinen. Darunter befinden sich beispielsweise das die Virusreplikation hemmende Interferon-γ oder das Natürliche Killerzellen und antikörperproduzierende B-Lymphozyten stimulierende Interleukin-2. Der Lebensbaum verbirgt demnach kein direkt antivirales Wunder, sondern ein das Wunder Immunsystem anregendes Prinzip.

Doch wie vermag die stets gleichlautende „Zuckerbotschaft“ des Zypressengewächses am Ende zu einer differenzierten und erregerspezifischen Immunantwort beizusteuern? Um mit der Produktion spezifischer Antikörper in B-Lymphozyten starten zu können, muss in unserem Körper zuerst unter 1,4 Millionen, sich durch Antigen-Rezeptoren unterscheidenden T-Lymphyozyten die wie ein Schlüssel zum Schloss passende „Oberflächenvariante“ gefunden werden. Die Auswahl trifft natürlich nicht der Lebensbaum. Vielmehr können TPS nur jene T-Lymphozyten stimulieren, die mit ihrem Antigen-Rezeptor bereits das passende Antigen (z.B. Virusprotein) „erkannt“ haben und dadurch zur Anregung bereit sind. Damit beschleunigt der Lebensbaum die Selektion des für die adaptive Immunantwort geeigneten T-Zell-Klons. Gleichzeitig bremsen TPS durch vermehrte Freisetzung von Interleukin-10 aus Monozyten ein „Überschießen“ der Immunreaktion.

So greift das Zypressengewächs weder direkt noch einseitig an einem erregerspezifischen Schlüsselprozess an, sondern überlässt sowohl die unspezifische als auch spezifische Abwehr dem anpassungsfähigsten, komplexesten und präzisesten Abwehrsystem der Erde, dem Immunsystem eines Wirbeltieres. Sollten nicht Wirkprinzipien nach Vorlage des Lebensbaumes für die Entwicklung cleverer Virostatika dienen, wo ein  „Streifschuss“ ins Ziel trifft?

Doch vermag eine diesem Prinzip folgende Arznei auch bei ernsthaften Viruserkrankungen, wie beispielsweise einer echten Grippe, zu helfen?

Auf der süßen Seite der Zwiebel

Foto: Abb. oben: Ähnlich wie Sonnenhut-Arten spielt die Röhren-Zwiebel (Allium fistulosum) unserem Immunsystem einen Streich und imitiert mit ihren Zuckerverbindungen gefährliche Erreger. Die TCM nutzt das „molekulare Mimikry“ der Zwiebel-Polysaccharide seit hunderten Jahren erfolgreich gegen „Kälte bei Wind“ und anderen Störungen im Funktionskreis Lunge und überlässt die eigentliche Arbeit dem Immunsystem. Wie viel Detailwissen über Erreger benötigt eine funktionierende Medizin? (Foto: ©Vogt)

In modernen Lehrbüchern der Pharmakologie wird das antibiotische Prinzip von Lauch-Arten alleine mit der Reaktion von scharfen Abbauprodukten ihrer schwefelhaltigen, vor allem in spezialisierten Niederblättern gespeicherten Thiosulfinaten und Cepaenen mit Eiweißen von Mikroben erklärt. Im Organismus wirken Knoblauch und Co aber weitaus komplexer. Im Jahr 2014 entdeckte eine japanischen Forschergruppe der Universität Toyama erstmals ein indirektes, über das Immunsystem vermitteltes Prinzip der Infektabwehr durch die Röhren-Zwiebel (Allium fistulosum), das sich nicht nur gegen Bakterien, sondern auch nachweislich gegen Viren wie z.B. Influenza-A-Erreger vom Subtyp H1N1 richtet. Die dafür verantwortliche Stoffgruppe ist nun aber weder scharf, zytotoxisch oder gibt sich in Antibiogrammen oder Virus-Neutralisationsstudien zu erkennen, sondern ist vielmehr süß schmeckend, schleimig und dient der Pflanze als Kohlenhydratspeicher. Niemand hätte zuvor erahnt, dass ausgerechnet die zu den Mehrfachzuckern zählenden Lauch-Fructane das adaptive Immunsystem von Säugetieren über ein Mehrfaches der „Normalabwehr“ stimulieren können.

Die Grundlage für die „Verständigung“ zwischen Lauch-Arten und Immunsystem beruht offenbar auf der zufälligen Ähnlichkeit ihrer Fructane mit oberflächlichen „Zuckermuster“ von Erregern, welche Immunzellen im Laufe der Evolution als potentiell gefährlich zu erkennen gelernt haben. Von volksmedizinischer Relevanz ist der in vivo Nachweis, dass ein zweimal täglich verabreichter Zwiebel-Heißwasserextraktes bei einer Infektion mit Influenza-A-Viren die Anzahl virusneutralisierender Antikörper im Sekret von Lungenbläschen am 10. Tag im Vergleich zu Kontrolle mehr als verdoppeln kann. Das einst von der WHO als unverzichtbares Grippemittel propagierte Oseltamivir, welches daraufhin alleine im Bundeland Kärnten für 3 Millionen Euro als „Tamiflu“ vorsorglich gekauft wurde, zeigte hingegen keine Förderung, sondern eine (für einen Virus-Freisetzungsinhibitor typische) „Dämpfung“ der spezifischen Immunantwort. Damit erklären sich einige Forscher klinisch beobachtete Reinfektionen und unvollständige Immunisierung bei vorheriger Remission unter Tamiflu. Hätte die WHO demzufolge nicht besser volksmedizinisch sinnvolle Zwiebelsuppenrezepte verteilen sollen, anstatt das mittlerweile als klinisch irrelevant und nebenwirkungsreich eingestufte Medikament zu bewerben?

„Für solche, die an Schüttelfrost leiden oder Fieber haben, ist die Zwiebel gekocht gut.“

Textauszug oben [PL 1163]: Erkannte bereits Hildegard v. Bingen die immunmodulierende Wirkung der Zwiebel und empfahl sie deshalb als „Fiebermittel“? Einige amerikanische Phytotherapeuten empfehlen die Einnahme von Tinkturen gegen Atemwegsinfekten gemeinsam mit Zwiebelabkochungen.

In der traditionellen chinesischen Medizin wird die Zwiebel des Röhren-Lauchs (Allii fistulosi bulbus) gerne zum „Ausleiten von Kälte durch Wind“ wie z.B. bei Schüttelfrost, verstopfter Nase oder Fieber ohne Schweiß in Form einer Abkochung genutzt. Ob sich hinter dem „Wind“ nun Rhino-, Corona- oder Influenzaviren verbergen ist für die Therapie vollkommen belanglos. Von Bedeutung ist die präzise Erfassung des Menschen mit individueller Klinik, Befindlichkeit und Konstitution sowie Kenntnis über die differenzierte Wirkung verschiedener Pflanzen(kombinationen). Die moderne westliche Medizin funktioniert genau anders herum: Sie differenziert Erkrankungen und ihre Auslöser bis zum Exzess und teilt dem Individuum danach Standardarzneien zu.

Aus Zucker geschmiedete Schlüssel

Abb. oben: Längst ist bekannt, dass die im Eibisch (Althaea officinalis) enthaltenen Schleime nicht nur eine reizlindernde und auskleidende Wirkung auf unser Atemwegsepithel ausüben, sondern auch „Zuckerschlüssel“ generieren, mit denen inaktive Immunzellen regelrecht „entsperrt“ werden können. Wässrige Zubereitungen der Eibischwurzel wurden bereits in der Klostermedizin des 12. Jahrhunderts als „Fiebermittel“ genutzt. (Foto: ©Vogt)

Lange Zeit wurden Vielfachzucker (Polysaccharide) in der Heilpflanzenkunde mehr als „stumpfsinnige“ Ballast-, Quell- und Schleimstoffe mit rein oberflächlicher, unspezifischer Wirkung angesehen. Mit der Entdeckung, dass Klapperschlangentoxine sowie das Gift im Rizinussamen ihre Ziele im Menschen, nämliche rote Blutkörperchen, an Hand oberflächlicher Zuckerketten gleich einem räumlichen Code „erkennen“, begann man gegen Ende des 19. Jahrhunderts die wundersame Welt molekularer „Zuckerschlüssel“ langsam zu erfassen. Am Ende musste das alte Dogma der Biologie fallen, nach welchem nur Nukleinsäuren (DNS, RNS) Information zu speichern in der Lage wären und sich diese ausschließlich in Form von „Eiweißabschriften“ übersetzten ließe. Unter den vier dem Leben zur Verfügung stehenden Klassen von Biomolekülen vermag keine auch nur annähernd die Vielseitigkeit und räumliche Präzision für den „Feinschliff“ molekularer Schlüssel und Schlösser mitzubringen wie Kohlenhydrate mit Oligo- und Polysacchariden.

Nicht nur Krankheitserreger wie Viren erkennen ihre Zielzellen nach dem molekularen „Schlüssel-Schloss-Prinzip“, sondern auch unsere Immunzellen haben im Laufe einer Koevolution gelernt Angreifer an Hand charakteristischer Zuckercodes, sog. Microbe Associated Molecular Patterns (MAMP), zu erkennen und entsprechende Immunreaktionen einzuleiten. Pflanzen sind nun wahre Meister im Jonglieren mit Zuckermolekülen und ihre Poly- und Oligosaccharide zeigen bei verschiedenen Taxa wie z.B. Sonnenhut, Lebensbaum, Wasserhanf oder Taigawurz Übereinstimmungen mit den „Zuckerschlüsseln“ von Pathogenen, so dass ihre Zubereitungen unser Immunsystem trainieren und bestimmte Abläufe beschleunigen können.

Süße Knöchelchen

Abb. oben: Die an kleine Knöchelchen erinnernden, weißlichen Thallusäste des „Totengebeins“ werden in Yunnan in Form eines Tees gegen „Lungenhitze“ und bei Fieber durch Ying-Mangel traditionell genutzt. Während sich die Flechtenforschung fast ausschließlich um antimikrobielle Flechtensäuren dreht, tragen hier harmlose Zuckerverbindungen das Wesen der Arznei. (Foto: ©Vogt)

In der traditionellen Medizin Yunnans (SW-China) werden Teezubereitungen aus der Totengebeinsflechte (Thamnolia vermicularis var. subuliformis) bei Atemwegserkrankungen durch „Lungenhitze“ und Fieber bei Yin-Schwäche genutzt. In sämtlichen Lehrbüchern der Phytopharmakologie wird die erstaunlich antimikrobielle Wirkung von Flechtenstoffen unterstrichen und könnte das Wirkprinzip gegen die hinter der „Lungenhitze“ stehenden Erreger begründen. Die für Flechten typischen Depside, Depsidone und Benzofurane fehlen Grund ihrer Wasserunlöslichkeit aber in traditionellen Teezubereitungen und können, selbst wenn sie in Spuren bioverfügbar wären, kein direkt antivirales oder antibiotisches Prinzip in unseren Lungen vermitteln. Welche Stoffe tragen aber das Wirkprinzip?

Ähnlich wie beim Lebensbaum ermöglicht erst unser Immunsystem die „Übersetzung“ der Pflanzennachricht, die in komplexen Vielfachzuckern, sogenannten Thamnolanen, räumlich verborgen ist. Ihre Wirkung kann deshalb in üblichen ex-vivo Hemmstudien (z.B. Antibiogrammen, Plaque-Reduktions-Assays) nicht voll erfasst werden. Obwohl die Flechte nur drei bis fünf im Pflanzenreich häufig vorkommende Einfachzucker verwendet, resultieren aus arttypischer Verknüpfung einzigartige „Zuckerschlüssel“, welche im Unterschied zu Echinacea oder Thuja eine mehr immunsuppressive als immunstimulierende Wirkung besitzen.

Doch kann eine das Immunsystem „einbremsende“ Droge bei einem viralen Infekt auch nützen? Ebenso problematisch wie eine unzureichende Immunreaktion ist eine Überreaktion mit lawinenartiger, durch positive Rückkoppelung zwischen Immunzellen anwachsende Zytokinfreisetzung („Zytokinsturm“), wie sie z.B. bei Influenza, ARDS oder SARS gefürchtet ist. Zur Unterbrechung solcher Kaskaden besitzt unser Immunsystem entzündungshemmende Signalstoffe wie z.B. das besonders relevante Interleukin-10. Das Totengebein führt nicht nur zur vermehrten Ausschüttung dieses Hormons, sondern reduziert gleichzeitig die Freisetzung proinflammatorischer Signalstoffe (TNFα, IL-6). Innerhalb der Immunmodulanzien existieren hinsichtlich Wirkung, Nebenwirkung und Kontraindikation also erhebliche Unterschiede, die wir in Zukunft noch besser verstehen müssen.

Die süßen Stacheln des Igelkopfs

Abb. oben: Durch eine falsche Saatgutlieferung wurde der Purpur-Igelkopf (Echinacea purpurea) zur bedeutsamsten immunstimulierenden Pflanze in Europa, denn ursprünglich wollte man den von den nordamerikanischen Indianern deutlich intensiver genutzten Schmalblatt-Igelkopf kultivieren.

Bis heute gelten Alkylamide und Cichoriensäure als wertbestimmend für die immunmodulierende und antivirale Wirkung von Echinacea-Zubereitungen. Demnach hätten sich aber die Sioux- und Crow-Indianer das Kauen von Prärie-Igelkopfwurzeln (Echinacae pallidae radix) bei Atemwegsinfekten ebenso ersparen können wie die Cheyenne und Dakota die Verwendung der Droge für Teezubereitungen gegen Vergiftungen. Zum einen fehlen die ohnehin wasserunlöslichen Alkylamide bei dieser Echinacea-Art in der Wurzel und zum anderen wird dem ebenso instabilen Kaffeesäurederivat neuerdings keine relevante Bioverfügbarkeit zugeschrieben. Demnach nur Einbildung der „Wilden“? Oder verwechselten die Indianer die Droge vielleicht mit den Wurzeln von Schmalblatt- und Purpur-Igelkopf, die beide Alkylamide führen?

Erst 2013 gelang einem niederländischen Forschungsteam ein erster tiefer Einblick in die komplexe immunbiologische Wirkung von Igelkopf-Vielfachzuckern. Bis dahin blieb offen, wie die „Zuckerschlüssel“ auf Seite der Pflanze kodiert und wie sie in unserem Immunsystem deschiffriert werden. Je nach Länge der pflanzlichen Fructane vom Inulin-Typ erfolgt durch unsere Immunzellen eine etwas andere Entschlüsselung, so dass neben immunstimulierenden auch immunsuppressive Prozesse eingeleitet werden. Von besonderer Bedeutung für die Auswertung der Zuckernachricht spielen sogenannte Toll-artige Rezeptoren (TLRs), die auf das Erkennen pathogener Erreger spezialisiert sind und Signalkaskaden einleiten können. Heute kennt man drei bedeutsame Signalwege für Igelkopf-Inhaltsstoffe in unserem Körper, wobei einer über Alkylamide (>Cannabinoid-Rezeptoren) und zwei durch Vielfachzucker (>TLR- und PPAR-„Weg“) eingeleitet werden. Die schlauen Indiander können also getrost alkylamidfreie, aber zuckerhaltige Wurzeln des Prärie-Igelkopfes kauen.

Wie streichelt man den Igelkopf?

Empfehlung Einnahmeschema Bewertung
Volksheilkunde Dauereinnahme über Winter falsch
Kommission E Einnahme bis zu 8 Wochen. überholt
BfArM max. 2 Wochen gefolgt von mind. 2 Wochen Pause umsichtig
aktuelle Lehrmeinung (z.B. Wenigmann M.) Prophylaxe: 4-6 Tage Einnahme -> 1-3 Wochen Pause, 2-3 Serien.
Akut: 1-2 Tage hohe Initialdosis -> 6-8 Tage „Normaldosierung“
immunologisch sinnvoll, klinisch bewährt

Für die Anwendung von Echinacea-Zubereitungen ist abseits der Dosierung vor allem das Einnahmeschema von therapeutischer Relevanz. Zur Prophylaxe hat sich die Intervalltherapie mit 1-3 Wochen Pause, für die Akutbehandlung die Stoßtherapie mit hoher Initialdosierung bewährt (siehe Tabelle oben). Hingegen ist eine kurmäßige Daueranwendung, selbst im Subdosisbereich, auf Grund immunologischer Anpassungsreaktionen bis hin zur unerwünschten Immunsuppression grundsätzlich abzulehnen. Vor der schwächenden und zehrenden Wirkung durch Langzeitanwendung von Echinacea warnt auch der Ayurveda, der das „kalt-trockene“ Wesen der Pflanze in der Umstimmungstherapie nutzt. Eine eventuell sinnvolle Ausnahme liefern schwere Verläufe mit Herpes simplex- u. Varicella zoster-Viren mit hohem Rezidiv (>1 x monatlich) und ausgedehnten Ulzerationen, wo sich in einigen Fällen eine bis zu 8 Wochen lange „Umstimmungstherapie“ in Kombination mit Johanniskraut (standardisiert, innerlich) bewährt hat.

Vom langen Arm seifiger Schlüssel

Neben reinen „Zuckerschlüsseln“ beherbergt das Pflanzenreich auch andere Varianten zum Öffnen immunologischer „Schlösser“ mit indirekt antiviraler Wirkung. Unter den Immunmodulanzien mit historisch langer und weltweit ethnomedizinischer Bedeutung befinden sich auffallend häufig Seifenstoffdrogen wie z.B. die unterirdischen Organe von Sibirischer Taigawurz, Stechwinden-Arten, Ginseng, Hasenohr-Arten, Mongolischem Tragant oder der Verschiedenblatt-Sternmiere. Obwohl die ihrer Wirkung zu Grunde liegenden Steroidsaponine oder Triterpensaponine rein chemisch betrachtet vorrangig an der Oberfläche wirken, besitzen sie im Organismus eine unter allen Pflanzenstoffen herausragende Fernwirkung mit zum Teil sehr vielseitigen und spezifischen Eigenschaften. Manche dieser „Seifenschlüssel“ steigern die physische und psychische Resistenz und begründen damit die Gruppe der sogenannten Adaptogene oder adaptogen wirkenden Drogen.

Abb. oben: Eine Artverwandte unserer heimischen Knollen-Miere (Pseudostellaria europaea) wird in der TCM ähnlich wie Ginseng als Adaptogen bei Schwäche durch Fiebererkrankungen, Schweißausbrüchen und Erschöpfung nach langen Krankheitsverläufen im Funktionskreis Lunge speziell bei Kindern genutzt. Die dazu erforderlichen „Schlüssel“ konstruiert das Nelkengewächs mit Seifenstoffen. (Foto: ©Vogt)

Wie ist das gleichzeitige Entsperren mehrerer und weit entfernter Schlösser aber möglich? Eine Erklärung liegt in ihrer Einflussnahme auf immunologische, endokrine und nervöse Kontrollpunkte im Organismus. Interessanterweise zeigen biochemische Analysen, dass der entscheidende Feinbau der Seifenstoffe wiederum von Zuckerketten gestaltet wird. Zudem konnten in nahezu allen immunmodulierenden Saponindrogen auch wirksamkeitsmitbestimmende Vielfachzucker entdeckt werden.

Einer, der aus der Kälte kam

Unter den gängigen Adaptogenen besitzt der Mongolische Tragant (Astragalus membranaceus) abseits von Ginseng die stärkste Beziehung zu den Atmungsorganen mit einer aus Sicht der TCM „stützenden Wirkung des Lungen-Qi“. Vor allem „Mangel an Wehrenergie“ mit Erkältungsneigung, Kurzatmigkeit und Thermoregulationsstörungen mit spontanen Schweißen führen traditionell zum Tragant, während die klinische Forschung vielversprechende Ergebnisse bei viralen Herzmuskelentzündungen und allergischer Rhinitis hervorbringt. Im Unterschied zu Ginseng handelt es sich bei seiner Wurzel weniger um ein Phyto-Geriatrikum, sondern um eine besonders für jüngere Menschen mit immunologischen Dysbalancen geeignete Droge. Daneben wird die Liste des gegen verschiedenste Viren wirksamen Schmetterlingsblütlers immer länger und umfasst z.B. Hepatitis-B-Virus (klinisch), Herpes-simplex-Viren (klin.), verschiedene Herzmuskelentzündungen auslösende Viren (klin.), HIV-1 (adjuvant), Parainfluenzaviren (in-vivo), Japan-Enzephalitis-Virus, Humanes Zytomegalievirus und viele andere. Und dass, obwohl die Pflanze weder direkt antiviral wirksame ätherische Öle noch der Virusandockung physikalisch entgegenwirkende Gerbstoffe bzw. Polyphenole und auch kein zytotoxisches Prinzip besitzt. Eine antivirale Wunderpflanze?

Abb. oben: Eine ausgezeichnete Pflanze zur Rekonvaleszenz nach schweren Atemwegsinfekten oder viralen Herzmuskelentzündungen ist der Mongolische Tragant. Hier wurde er nach einer langwierigen Pneumonie mit der chinesischen Dattel zum ergänzenden Heben des Leber-Qi für einen Dekokt kombiniert. (Foto: ©Vogt)

Ein dermaßen breit antivirales Spektrum lässt sich jedenfalls nicht mit erregerspezifischen Mechanismen, sondern nur mit einem zu Adaption und Differenzierung befähigten System begründen. Dieses findet die Pflanze aber in unserem wundersamen Immunsystem, welches mit einer Kombination aus Seifenstoffen (Astragalosiden) und Vielfachzuckern (Astragalanen) von ihr moduliert wird. Zu den relevanten Schlüsselprozessen auf der Seite der unspezifischen Immunreaktion zählen eine vermehrte Ausschüttung des antiviralen Botenstoffes Interferon-γ und eine Aktivitätssteigerung von Natürlichen Killerzellen. Im Bereich der adaptiven Immunantwort sind die wiederholt nachgewiesene Balancierung unterschiedlicher T-Zellentypen sowie eine regulatorische Wirkung auf die Antikörperbildung bemerkenswert.

Pflanze Droge auf 100,0
Mongolisch-Tragant Astragali radix 45
Rotwurzel-Salbei Salviae miltiorrhizae rad. 25
Ingwerwurzel Zingiberis rhizoma 10
Süßholz Liquiritiae radix pulv. 20
Abb. oben: Beispielhafte Pflanzenkombination zur Begleitung viraler Herzmuskelentzündungen im Sinne der Rekonvaleszenz und Rezidivprophylaxe. Die Zubereitung ist als Dekokt sowie als Tinktur sinnvoll. Aus einem Cochrane-Review geht die Überlegenheit von Mongolischem Tragant bei viralen Myokarditiden gegenüber einer Reihe anderer Pflanzen(-kombinationen) hervor. (Rezept: Vogt Dietmar)

Pro immun statt anti viral

Ein herausragendes Merkmal immunmodulierender, pflanzlicher Vielstoffsyteme ist letztlich ihre regulatorische Wirkung. In zahlreichen Versuchen konnte gezeigt werden, dass die Stärke ihrer Wirkung vom Ausmaß der immunologischen „Schieflage“ abhängt und sozusagen je nach Notwendigkeit in die passende Richtung steuert. Die dazu erforderliche Information beherbergt letztendlich unser Körper selbst, die Pflanze setzt nur den erforderlichen Impuls.

Vergleich Echinacea sp.
Igelkopf
Allium fistulosum
Röhrenzwiebel
Thamnolia vermicularis
Totengebein
Thuja occidentalis
A. Lebensbaum
Astragalus membranaceus
M. Tragant
thermisch-energetisch-humoralpathologische Eigenschaften kalt-trocken-reduzierend (Ayurveda) warm-scharf-emporhebend (TCM) kühlend (trad. Med. Yunnan) wärmend (NA-Indianer) warm-süß-emporhebend (TCM)
Immunologische Besonderheiten 3 mögliche Signalwege (TLRs-, PPAR- und CB2-) + Antikörper vs Influenza H1N1, + IL-10, +/- TNFα, – IL-6: deutlich immunsuppresiv T-Zellen-Mitogen (Okt4/Okt17 pos. Helferzellen) +NK-Zellen-Aktivität, T-Zellen-Balancierung, Ig(A)-Regulation
Erfahrungsmedizinische Feinkriterien +Hautassoziation (Mykosen, Ekzeme, Zoster). „Kälte bei Wind ausleitend“ (Schüttelfrost, Fieber ohne Schweiß, Rhinitis) „Hitze in den Lungen“, Yin-Mangel T-Lymphozyten-assoziierte Erkrankungen,
zzgl. aquaretisch
Erkältungsneigung, Allergien, starke Schweiße bei Qi-Defizit, virale Myokarditiden
Indirekt antivirales Prinzip +iNOS, ­Ifγ, +iNOS,
+Antikörper
unbekannt +Ifγ +Ifγ, ­NK-Zellen,
Träger d. antiviralen Prinzips i. d. Droge Vielfachzucker (Frutane), Alkylamide Vielfachzucker (Frutane) Vielfachzucker Vielfachzucker Vielfachzucker, Saponine
Klassifizierung Kühles Umstimmungs-mittel Warmes Immunmodulanz Kühles Immun-suppressivum Warmes Immunmodulanz Adaptogen im Funktionskreis Lunge
Tab. oben: Vergleich immunmodulierender Pflanzen mit indirekt antiviraler Wirkung nach verschiedenen Kriterien. In Zukunft benötigt die westliche Phytotherapie ein wesentlich genaueres, immunologische und vor allem klinische Aspekte berücksichtigendes „Pflanzendifferenzierungssystem“ ähnlich der TCM. Nur so kann ein achtsamer und verantwortungsvoller Umgang mit Pflanzenarzneien gelingen. (©Vogt D.)

Abkürzungen: iFy Interferon-Gamma, iNOS induzierbare Stickstoffmonoxid-Synthase, IL Interleukin, NK- Natürliche Killer, TNF Tumornekrosefaktor, TLRS Toll-artige-Rezeptoren, PPAR Peroxisom-Proliferator-aktivierte Rezeptoren, CB2 Cannabionoid-Rezeptoren Typ2.

Wir benötigen heute keine viruziden „Superpflanzen“ oder spezifisch antiviral wirksame „Wunderstoffe“, sondern ein tieferes Verständnis für die differenzierte Anwendung unterschiedlicher Pflanzen und Drogenkombinationen zum Öffnen körpereigener, ausreichend wundersamer immunologischer Prozesse. Lange vor den Erkenntnissen der modernen Immunbiologie hat der Arzt Emil Schlegel (1852-1934) das Wesen (solcher) pflanzlicher Arzneien erkannt, wenn er schreibt:

Die Pflanze fordert den Selbstschutz des Organismus in gewissen Richtungen heraus und damit erwehrt sich das Leben seines eingeleibten Schadens.

Lebensbaum, Totengebein, Röhrenzwiebel, Igelkopf und Tragant liefern nicht nur immunbiologische Plausibilität, sondern auch historische und klinische Evidenz für das Funktionieren dieser erweiterten Reizkörpertherapie. Die gute Wasserlöslichkeit immunmodulierender „Pflanzenzucker“ und Saponine laden zur heute vernachlässigten, für eine Individualisierung optimal geeignete Teetherapie ein. Die große Herausforderung in der westlichen Pflanzenmedizin besteht weniger in der Aufklärung erregerspezifischer Schlüsselprozesse und ihrer einseitigen Hemmung, sondern die Entwicklung eines feiner auf den Menschen abgestimmten „Pflanzendifferenzierungssystems“: Welcher „Pflanzenschlüssel“ passt auf Grund seines Feinschliffes am genauesten zum betroffenen Individuum?

Viel Erfolg beim Drehen pflanzlicher „Zuckerschlüssel“ und Vertrauen in unser Immunsystem wünscht euer Phytagoras!