Ein goldschweres Krampfkraut
„Gold, Silber, Zahnstocherkraut und sonst nichts!“, heißt es noch heute in manchen Teilen Andalusiens und bringt die Wertschätzung gegenüber einem vergessenen Doldenblütler zum Ausdruck. Wer unter krampfartigen Beschwerden der glatten Muskulatur leidet, wird vielleicht auch beide Edelmetalle bereitwillig gegen eine Handvoll scharf-bitter schmeckender Früchte der Zahnstocher-Knorpelmöhre eintauschen. Erinnert das nicht an das Märchen „Hans im Glück“, wo ein gutgläubiger Narr am Ende leer ausgeht? In diesem Fall nicht, denn bei Bronchialasthma kann die spasmolytische Wirkung der Fruchtdroge bis zu sechs Stunden andauern und damit einen erholsamen Schlaf bescheren, der wohl mit keinem Schatz der Welt aufzuwiegen ist. Dürfen Asthmatiker auf der Suche nach einer pflanzlichen Begleittherapie nun endlich aufatmen und warum taucht in verschiedenen Trivialnamen der Pflanze immer wieder das Wort „Zahnstocher“ auf?
Doldiger Zahnstocher mit antibiotischer Wirkung
Wer den faden Geschmack industrieller Buchenholz-Zahnstocher satt hat und für seine Mundhygiene sogar zur Gartenschaufel greift, pflanzt sich entweder einen Mastixstrauch (z.B. Pistacia lentiscus) oder versucht sein Glück mit Rautengewächsen der Gattung Orange (Citrus sp.). Einen weitaus schnelleren und vor allem keinerlei „Schnitzkünste“ erforderlichen Weg zur traditionellen Gewinnung von Zahnstochern ermöglicht aber die Zahnstocher-Knorpelmöhre, auch Zahnstocherammei genannt. Bereits im zweiten Jahr kann vom getrockneten Blütenstand ein Doldenstrahl abgebrochen und als Zahnstocher verwendet werden. Folgt man dem Ritual antiker „Zahnstocherkauer“, so verbreitet sich nach kurzer Zeit ein zart bitter-aromatischer, später leicht brennender Geschmack in der Mundhöhle. Die dafür verantwortlichen Furanochrome, Cumarine und ätherischen Öle entfalten dabei eine antimikrobielle Wirkung. Noch heute hat die Verwendung der „Ammei“ als Zahnstocher in nordafrikanischen Ländern Tradition und ist zugleich ein hübscher Tischschmuck.
Doppeldolde bringt Doppelsegen
Abseits der Nutzung für trickreiche Zahnstocher, entdecken wir im heute mediterran-subtropisch verbreiteten Doldenblütler auch eine echt altägyptische Heilpflanze, die bereits 1500 Jahre v. C. im berühmten Papyrus ebers angeführt wurde und auch ihr Sippenzentrum in Nordafrika besitzt. Die Behandlung von Nierenkoliken mit den Früchten zählt dabei zu den ältesten überlieferten Anwendungen und wird durch eine entkrampfende Wirkung auf die ableitenden Harnwege plausibel.
Man muss sich die Entdeckung eines natürlich wachsenden Muskelrelaxans vor der Ära chemosynthetischer Arzneimittel bewusst machen, als man die Erde gerade als Scheibe entdeckte und Sonne wie Mond als Augen des Falkengottes Horus betrachtete, um das Ansehen der „Ammei“ im alten Ägypten zu begreifen. Im Laufe der Medizingeschichte erreichte der Doldenblütler eine Vielzahl von Anwendungsgebieten, wo eine Entspannung glattmuskulärer Organe zu einer raschen Beschwerdverbesserung führt: Keuchhusten, Bronchitiden, asthmatische Beschwerden, Koliken der ableitenden Harnwege, Uterusspasmen oder Angina pectoris.
Mit der gefäßerweiternden Wirkung auf Aorta und Herzkranzgefäße wurde die Pflanze auch zu einem echten Kardiakum mit einem ergänzend positiv inotropen, also einem die Kontraktionskraft des Herzens erhöhenden Wirkprofil. Die Bezeichnung eines echten „Herzmittels“ ist auch dadurch berechtigt, weil das periphere Gefäßsystem vom vasodilatorischen Effekt scheinbar unberührt bleibt und sich dadurch auch interessante Feinziele ableiten lassen.
Auch der Nutzen bei durch Nierengries verursachten Koliken wird durch einen aquaretischen Effekt im Sinne einer wünschenswerten Durchspülung unterstützt. Wollen wir die Schwierigkeit der Dosierung sowie die Frage nach Wirkstärke und etwaiger Nebenwirkung zunächst außer Acht lassen, müsste ein Arzt im 21. Jhd. schon einige Medikamente kombinieren, um die Mehrfachwirkung der Ammi zu immitieren. Auch ein guter Pflanzenkenner hätte seine Schwierigkeiten, wollte er alleine mit der Flora Mitteleuropas die Ammi ersetzen.
Für einen verhältnismäßig rasch einsetzenden, verlässlich spasmolytischen Effekt käme man an der Verwendung parasymphatolytischer Nachtschattengewächses wie Tollkirsche, Bilsenkraut oder Krain-Tollkraut jedenfalls nicht vorbei. Allesamt Pflanzen, für die heute keine normierten, also auf eine bestimmte Wirkstoffmenge eingestellte Zubereitungen mehr zu Verfügung stehen und deren Verwendung, wie der Apotheker gerne erklärt, „obsolet“ geworden ist. Dabei wird meistens übersehen, dass eine Reihe wichtiger, nach Evidenz und Risiko-Nutzen-Analyse vorgehender Ärzte des 20. Jahrhunderts auf die ausgesprochen gute Verträglichkeit und die erwünschte Mehrfachwirkung von Nachtschattengewächsen mit Tropanalkaloiden hinweisen.
Eine gleichzeitig harntreibende und das Herzzeitvolumen fördernde Pflanze mittelstarker Potenz, wie z.B. die mediterrane Weiß-Meerzwiebel (Drimia maritima), ist in Mitteleuropa derzeit nicht bekannt und man müsste z.B. den positiv inotropen Einkern-Weißdorn (Crataegus monogyna) mit einem Aquaretikum wie Birke, Brennnesssel oder Goldrute kombinieren. Jetzt erahnen wir die therapeutische „Reichweite“ der Zahnstocher-Knorpelmöhre, die durch ihr pflanzliches Vielstoffsystem begründet wird.
Im Meer ersoffen
Der Sprung über das Mittelmeer gelang der Zahnstocher-Knorpelmöhre trotz erstaunlicher Wirkung und ausreichend historischer Evidenz am Ende aber nicht. Bereits die ehemalige Expertenkommission E stellte der Fruchtdroge (Ammeos visnagae fructus) 1994 eine Negativmonographie für alle traditionellen Indikationen aus. Die „Wirksamkeit der beanspruchten Anwendungsgebiete ist nicht ausreichend belegt“, hieß es im „Einreisverbot“ für den Nordafrikaner, obwohl die experimentellen Untersuchungen eines auf den Wirkstoff Khellin eingestellten Pflanzenextraktes nicht nur vielversprechend ausfielen, sondern eine rasche Elimination der wirksamkeitsbestimmenden Furochrome aus dem Organismus nachgewiesen wurde. Auch leichte Vergiftungserscheinungen wurden erst bei hoher Dosierung nach 6 Wochen Dauereinnahme im Tierexperiment beobachtet.
Die in der therapeutischen Praxis nur in Einzelfällen aufgetretenen Nebenwirkungen wie Schwindelzustände, pseudoallergischen Reaktionen, erhöhten Transaminasewerte oder eine verstärkte Lichtempfindlichkeit mit dem Risiko von Dermatosen sind für ein rasch einsetzendes Spasmolytikum verhältnismäßig harmlos.
Auch der „Vater der modernen Phytotherapie“ in Mitteleuropa, Prof. Fritz Weiß, sah in der Pflanze ein verlässliches und verhältnismäßig gut verträgliches Mittel zur Vorbeugung nächtlicher Asthma-Episoden. Nachdem die aktuelle Arzneimittelagentur der Europäischen Union ihren Kurs gegen cumarinhaltige Pflanzen kaum ändern wird und selbst die Echt-Engelwurz mit einem „Risk Report“ zurück in den kalten Norden verbannte, wird der Ammei wohl niemand mehr einen Rettungsring zuwerfen. Und wieder einmal ist eine lang gediente Pflanze der Erfahrungsheilkunde „ertrunken“.
Komplementärmedizin bald ohne Pflanzen?
Mit dem Ersatz von Pflanzen, also natürlichen und weniger exakt steuerbaren Vielstoffsystemen, durch chemosynthetische, genauer lenkbare Einzelstoffe, gelang der pharmazeutischen Industrie in den letzten zweihundert Jahren die erfolgreiche „Umerziehung“ unserer Ärzte und forcierte das mechanistische Denken in der Medizin. Pflanzliche Zubereitungen mit Jahrhundert bis Jahrtausend langer Erfahrung werden zunehmend durch „kurzzeitbelichtete“ Monopräparte substituiert. Auch in der sogenannten Naturheilkunde geht der Trend eindeutig in Richtung Extraktion, Isolation und Anreicherung von Einzelakteuren aus Pflanzenteilen. Ob das „Single Player Game“ dem ursprünglichen Geist der Phytotherapie gerecht werden kann, ist fraglich, wenn bis heute die wenigsten Zusammenhänge wirklich verstanden wurden und nicht einmal die Synergien in einem ordinären Kamillentee befriedigend erklärt werden können. Bis heute hält man, wie Wolfgang Goethe in seinem Faust treffend zum Ausdruck brachte, „alle Teile in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band!“. Wer und wie entscheidet darüber, was aus der Pflanze „raus“ muss und was „drinnen“ bleiben darf?
Die Vorteile von Monopräparaten scheinen zunächst eindeutig zu überwiegen: Rascher Wirkungseintritt, höhere Wirkpotenz, leichte Dosierbarkeit, Vorliegen klinischer Daten und Beipackzettel für klare Indikation und rechtliche Sicherheit. Zudem glaubt man durch Experiment und Simulation im Labor die Wirkung einer Substanz im Körper ausreichend verstanden zu haben und spricht in diesem Zusammenhang meist gerne von „vollständiger Aufklärung“. Doch genau an diesem Punkt werden Pharmakognosie und Physiologie miteinander verwechselt, denn selbst die beste Versuchsanordnung vermag niemals aufzuklären, was in der „black box“ des Individuums auch tatsächlich geschieht.
Auf der anderen Seite konnte die bessere Verträglichkeit sowie die stärkere Wirkung von Gesamtextrakten einer ganzen Reihe von Pflanzen gegenüber ihren Einzelbestandteilen bestätigt werden. Noch mehr aber wiegt die unzureichend bekannte und wenig erforschte „Multi-Target-Wirkung“ pflanzlicher Vielstoffsysteme, die der Physiologie des Menschen wohl besser gerecht werden kann als die „1-Stoff-Hebel-Medizin“. Doch hier fehlt es zunehmend an therapeutischer Erfahrung, universitären Ausbildungsmöglichkeiten und wissenschaftlichen Daten. Die pharmazeutische Forschung wird unter den aktuellen Rahmenbedingungen auch weiterhin auf Monopräparate setzen während eine nicht mehr kontrollierbare Nahrungsergänzungsmittelindustrie Einzelstoffe bunt „zusammen würfelt“ und sich mehr mit Design als mit Wirksamkeit befasst.
Die „Naturheilkunde“ ist heute bequem geworden und angesichts attraktiver Produktkataloge wollen sich immer weniger mit „ganzen“ Pflanzen, ihren Drogenprofilen und der magistralen Rezeptur befassen. Vor 3000 Jahren, als die Erde noch eine Scheibe war und Pflanzen als Samen des Horus verehrt wurden, war die Phytotherapie vielleicht fortschrittlicher als sie in wenigen Jahrzehnten sein wird.
In diesem Sinne viel Spaß beim Erkunden der Scheibe und nur nicht runter fallen!
Euer Phytagoras
Vorankündigung 2020
Von April bis November 2020 findet in Kärnten ein Aufbaulehrgang zu Drogenkunde und Heilpflanzenpraxis in 8 Fr-Sa-Modulen (110 UE) im Raum Klagenfurt Land statt. Teilnehmer: max. 14 Personen.