Übersehene Größe der Klein-Braunelle
In der Regel tritt man sie ungeniert und achtlos nieder: In Europa besitzt die jedem bekannte Klein-Braunelle weder in der Volksheilkunde und schon gar nicht in der rationalen Phytotherapie gegenwärtig eine Bedeutung. Die meisten Arzneipflanzenkenner reagieren ungläubig bis verlegen, stellt man ihnen „Xia Ku Cao“ – so werden getrocknete Braunellenähren in der traditionell chinesischen Medizin bezeichnet – als eine in Asien bereits seit der Han-Dynastie vor 2200 Jahren wertgeschätzte Arznei vor. Bis heute wird die Droge zur „Klärung von Hitze“ im Funktionskreis Leber verwendet – besonders dann, wenn sich die Störung auch am Auge manifestiert. Auch die nordamerikanischen Blackfoot-Indianer gelangten zu einer ähnlichen Erkenntnis und verwendeten Braunellenblütentee als kühlende Augenarznei. Hat die heute an Augenheilpflanzen vollkommen verarmte europäische Medizin über Jahrhunderte lang eine Arznei übersehen, die in jedem Trittrasen blüht?
Braun, braun, braun ist alles was ich sehe …
Übersehen wurde die 5-20 cm, manchmal bis 50 cm Wuchshöhe erreichende „Wiesenpflaume“, wie die Klein-Braunelle (Prunella vulgaris) wegen ihrer violetten Kronblätter einst bezeichnet wurde, in Europa natürlich nicht. Verheißungsvolle Trivialnamen wie „Gauchheil“, demnach eine „schnell Heil bringende“, oder „Gutheil“, also ein „Gottes Heil“, zeugen vom einstigen Ansehen des Lippenblütlers in der Volksmedizin. Die nicht selten kleinwüchsigere Groß-Braunelle landete unbeachtet ihrer mehr als 1,9 cm langen, im Verhältnis zum Kelch 2-3 Mal so großen Blütenkrone wahrscheinlich im gleichen Sammelkorb der Kräuterweiber.
Zu einer ersten medizinischen Indikation inspirierten in Europa die nach dem Verblühen noch lange sichtbaren und eindrucksvoll braun gefärbten Blütenkelche, in denen die Signaturenlehre durch Farbvergleich ein Heilmittel bei Atemwegsinfekten mit bräunlichen Schleimhautläsionen erkennen wollte. Als „seer bewäret wider die Breüne im Mund“ beschreibt der berühmte Arzt und Botaniker Leonhard Fuchs die Braunelle bereits im 16. Jahrhundert. Bis zur Entwicklung des ersten wirksamen Antitoxins gegen die „Halsbräune“ (Rachen-Diphterie) durch Emil von Behring sollten allerdings noch weitere 350 Jahre vergehen, in denen die Volksheilkunde mehr hoffnungsvoll als erfolgreich eine Reihe von bräunlich blühenden Pflanzen als „Braunheil“ propagierte. Dennoch ist bemerkenswert, dass beispielsweise mit der Knoten-Braunwurz (Scrophularia nodosa), dem Groß-Wiesenknopf (Sanguisorba officinalis) und auch der Klein-Braunelle durch simplen Analogieschluss eine Arzneipflanzenwahl glückte, die auf Grund entzündungshemmender und adstringierender Wirkung eine symptomatische Begleittherapie durchaus rechtfertigt.
Eine Tasse „Brauntee“ gefällig?
Eine aktuelle Studie bescheinigt Braunellentee – zubereitet als Aufguss mit 80°C heißem Wasser und 15 Minuten Ziehzeit – einen höheren Gehalt an gesamten Flavonoiden und Polyphenolen als einem gleich zubereiteten Grünen Tee, der gerade wegen diesen beiden Stoffgruppen beworben wird. Der reale „Gesundheitswert“ einer Pflanze lässt sich natürlich nicht alleine durch quantitative Stoffanalyse ermitteln und wird vielmehr durch spezifisches Stoffmuster, Wechselwirkungen (Synergismen, Antagonismen) der Inhaltsstoffe, Stofflöslichkeit und Bioverfügbarkeit, bis hin zum Geno- und Stoffwechseltyp des Menschen mitbestimmt. Nun zeigte aber die Klein-Braunelle in drei von vier gängigen Methoden zur Ermittlung des antioxidativen Potentials, also der Fähigkeit zelltoxische Sauerstoffverbindungen und Radikale zu entschärfen, erstaunlicher Weise eine ebenso starke Wirkung wie der Teestrauch und im vierten Analyseverfahren sogar signifikante Überlegenheit. Sollten wir deshalb Braun(ell)en Tee gegen Grünen Tee tauschen?
Auf Grund des breiten Spektrums von rund dreihundert bekannten, wenig „exotischen“ und zumeist gut erforschten Inhaltsstoffen der Klein-Braunelle aus der Gruppe der Triterpene (z.B. Ursolsäure, Oleanolsäure), der Flavonoide (z.B. Quercetin-, Kaempferol-, Delphinidin-Glykosiden) und der Phenylpropanoide (z.B. Rosmarin- u. Kaffeesäure), würde man auf eine vielseitig anwendbare und entzündungshemmende Hilfsarznei und weniger an ein richtungsbestimmendes oder organspezifisches Remedium cardinale schließen. Ist der Lippenblütler also nur ein langweiliger „Alles ein wenig und nichts speziell gut“-Könner?
Der Weg zum Auge
Es gibt nur wenige Arzneipflanzen wie die Klein-Braunelle, welche in der modernen chinesischen Phytotherapie dezidiert bei nächtlichen Schmerzen der Augäpfel und bei Augenbeschwerden im Zusammenhang mit Bluthochdruck empfohlen werden. Bei arterieller Hypertonie zeigen wässrige Extrakte des Lippenblütlers in einigen klinischen Beobachtungsstudien auch zufriedenstellende Wirksamkeit, die man sich durch gefäßerweiternde und vasoprotektive Eigenschaften erklärt. Damit würde die Klein-Braunelle zumindest einen Risikofaktor für bestimmte Augenerkrankungen (z.B. hypertensive Retinopathie) reduzieren können. Eine klinische Langzeitbeobachtungstudie des Ningpo Eye Hospitals mit 365 Teilnehmerinnen rechtfertigt auch den adjuvanten Einsatz der Klein-Braunelle bei „Trockenem Auge“ im Klimakterium auf Grund signifikanter Überlegenheit hinsichtlich Tränenfilmstabilität, Tränensekretionsleistung und Entzündungsrückgang im Vergleich zur immunsuppressiven Monotherapie mit Ciclosporin. Doch wie findet die Pflanze zum entfernt gelegenen Auge?
Nach Vorstellung der TCM dringt die kalte und demnach Hitze beseitigende, zugleich aber auch scharfe und somit zerteilend wirkende Klein-Braunelle in die Funktionskreise Leber und Gallenblase ein und vermag in der Jueyin-Schicht gestautes Feuer aufzulösen. Als Folge kann die Klein-Braunelle auch blockiertes Leber-Qi lösen und bewegen. Nachdem die Leber über die Jueyin-Leitbahn mit dem Auge verbunden ist und in das Auge öffnet, wird die Klein-Braunelle zu einer rational begründbaren Augenarznei in der TCM. Für die westliche Augenheilkunde, welche das Auge über Jahrhunderte lang vom restlichen Körper entkoppelt betrachtet hat und der es bis heute an systemischen Therapiezugängen mangelt, klingt das natürlich „chinesisch“.
Dabei liefert die mittlerweile häufigste Erblindungsursache im erwerbsfähigen Alter in Deutschland, die diabetische Retinopathie, ein eindrucksvolles Beispiel für eine Gefäßerkrankung der Netzhaut mit Beteiligung von Pankreas (Insulin produzierende Beta-Zellen), Leber (Fett- u. Kohlenhydratestoffwechsel) und praktisch allen Körperzellen, welche die Glukoseintoleranz mitbestimmen. Auch andere ernsthafte Erkrankungen des Auges greifen trotz unterschiedlicher Ursache an den Mikrogefäßen an und führen über Ablagerungsprozesse, Mikroaneurysmen, Ödeme, krankhafter Gefäßneubildung und Kapillarbruch zu Mangeldurchblutung und Zellniedergang. Der Zutritt zum Auge gelingt der Klein-Braunelle nun über die Beeinflussung der Gefäßwand, welche die für das Auge bedeutungsvolle Mikrozirkulation mitbestimmt.
Braunelle gegen Gefäßwand-Piraterie
Zu den initialen Prozessen jeder Gefäßentzündung gehört das „Andocken“ von im Blut zirkulierenden Immunzellen an der Gefäßinnenwand. Zu diesem Zweck benutzen unsere weißen Blutkörperchen eine Garnitur biochemischer „Enterhaken“, um an der Oberfläche von unseren Gefäßen innen auskleidenden Endothelzellen ausreichend Halt zu finden. Ob eine Entzündung lokal begrenzt bleibt oder durch das Immunsystem mitunter inadäquat und problematisch verstärkt wird, hängt entscheidend von der Interaktion zwischen Leukozyten und Gefäßwandzellen ab. Zu den besonders wirkungsvollen Enterhaken zählt das sog. „Intrazelluläre Adhäsionsmolekül 1“ (ICAM-1), welches als eine Art „Notruf“ von gestressten Endothelzellen freigesetzt und von Leukozyten zum Andocken genutzt wird.
Im Zuge einer humanklinischen Studie wurde entdeckt, dass unsere Klein-Braunelle den Angriff von Weißen Blutkörperchen in Augenbindehautgefäßen via ICAM-1 signifikant abschwächen kann und damit Beschwerden von Patientinnen mit Trockenem-Auge-Syndrom zu lindern vermag. Mittlerweile ist bekannt, dass auch ein anderes wichtiges Adhäsionsmolekül (VCAM-1) sowie die Signalkette zur Freisetzung von Gefäßwand-„Enterhaken“ durch Klein-Braunelleninhaltsstoffe unterdrückt werden.
In Kombination mit weiteren „Gefäßschutzdrogen“ (Vasoprotektiva) wie z.B. Weiß-Maulbeerblätter, Buchweizenkraut, Heidelbeerfrüchten, Hibiskusblüten, Rotwurzel-Salbeiwurzel oder Asiatischem Wassernabelkraut kann die Klein-Braunelle universell bei Mikrozirkulationsstörungen genutzt werden.
Die Klein-Braunelle vermag aber nicht nur am Beginn, sondern auch am Ende von Entzündungskaskaden bremsend einzugreifen, wenn das Auge auf Grund von Mikrozirkulationsstörung und Sauerstoffmangel (Hypoxie) mit krankhafter Gefäßneubildung reagiert. Die Produktion dazu notwendiger Wachstumssignale erfolgt dabei über das Auslesen eigener „Sauerstoffmangelgene“, deren wichtigstes Lesegerät, der sog. „Hypoxie induzierbare Faktor“, durch die Klein-Braunelle lahmgelegt wird. Interessanterweise hemmen auch andere traditionelle „Augenarzneipflanzen“ der chinesischen Phytotherapie wie z.B. Sommerflieder (Buddleja officinalis), Bürgers Wollstängel (Eriocaulon buergerianum) oder Glanz-Liguster (Ligustrum lucidum) die durch Sauerstoffmangel oder Entzündung induzierte Gefäßsprossung und werden damit Therapiezielen der modernen Augenheilkunde gerecht.
Mit dem „Andocken“ von ortsfremden Zellen und krankhafter Gefäßneubildung besitzt eine Reihe von Augenerkrankungen zwei pathogenetische Übereinstimmungen mit Endometriose. So benötigt z.B. die Entwicklung von Endometrioseherden zunächst die erfolgreiche Anlagerung verschleppter Gebärmutterschleimhautzellen an fremde Gewebeoberflächen mit Hilfe von Adhäsionsmolekülen (ICAM-1, VCAM-1) und später ihre Versorgung durch Gefäßsprossung. Gegen beide Krankheitsprozesse besitzt die Klein-Braunelle nachgewiesene Wirkmechanismen, die sich im Endometriose-Tiermodell bereits eindrucksvoll bewährt haben. Als diätetische Arzneipflanze, die seit 2010 von der chinesischen nationalen Gesundheitskommission (NHC) auch als „Heilnahrung“ eingestuft wird, ermöglicht die Klein-Braunelle eine weitgehend unbedenkliche und pharmakologisch plausible Begleittherapie bei Endometriose. Zu diesem Zweck sollte sie mit Rotwurzel-Salbei (Salvia miltiorrhiza), Eisenkraut (Verbena officinalis), Chinesischem Mutterkraut (Leonurus heterophyllus) und anderen bewährten Begleitpflanzen kombiniert werden.
Womit drückt die Braunelle den Blutdruck?
Um wie viele Millimeter Quecksilbersäule (Hg) senkt die Braunelle den Blutdruck? Die oft einzige Frage skeptischer Internisten zur pflanzlichen Begleittherapie bei arterieller Hypertonie betrifft den Anteil an der Blutdrucksenkung in absoluten Zahlen. Eine um Ganzheitlichkeit bemühte und die Pathogenese von Gefäßerkrankungen berücksichtigende Medizin würde sich mehr für die vielseitig protektive Wirkung von Pflanzen an der Gefäßwand wie z.B. Reduktion toxischer Sauerstoffradikale, Senkung prothrombotischer Gefäßwandsignale, verringerte Leukozyten-Adhäsion, Verringerung von Kapillarpermeabilität und Kapillarbrüchigkeit, Verbesserung der zellulären Kontakte im Endothel, Hemmung fibrotischer Gefäßwandprozesse, Steigerung der Gefäßwandelastizität, Aktivitätssteigerung gefäßerweiternder Enzymen und viele andere, dem Krankheitsverlauf entgegenwirkende „Schutzmechanismen“ interessieren, welche synthetische Antihypertensiva in dieser Weise nicht vermitteln. Die rasche und massive Blutdrucksenkung bei schwerer Hypertonie, die beispielsweise mittels moderner ACE-Hemmer erreicht wird, ist kein Ziel der Phytotherapie, sondern die Widerherstellung und der Erhalt der vielschichtigen Gefäßwandintegrität, um die Folgen von Hypertonie mittel- bis langfristig abzufedern. Obwohl für die Klein-Braunelle sogar eine verminderte Bildung von gefäßverengenden Angiotensin II im Stressmodell in-vivo nachgewiesen wurde, ist das lediglich ein Mosaiksteinchen eines Gesamtbildes. Auch die gesteigerte Ausschüttung von gefäßschützenden Stickstoffmonoxid an der Gefäßinnenwand, die Hemmung von gefäßverengenden Endothelin-1, die Reduktion von Adhäsionsmolekülen, die Senkung von Blutfetten oder die nachgewiesene Verzögerung des Blutzuckeranstieges nach dem Essen sind nur Teile eines gefäßschützenden Ganzen der Klein-Braunelle.
Man sollte die Rolle von Arzneipflanzen niemals auf nur einen messbaren Körperparameter wie z.B. den Blutdruck reduzieren und mit einseitig mechanistisch wirkenden Synthetika vergleichen. Dennoch vermögen einige Pflanzendrogen wie z.B. Olivenblätter oder Hibiskusblüten durch Summenwirkung ihrer Vielstoffsysteme den systolischen bzw. diastolischen Blutdruck mittel- bis langfristig um 10 mm bzw. 5 mmHg zu senken und erreichen damit ein von der WHO festgelegtes Ziel zur deutlichen Senkung von Folgeschäden bei Grenzwerthypertonie. Retrospektive Studien zum Auge belegen, dass eine Blutdrucksenkung von 10/5 mmHg bereits einen hochsignifikanten Rückgang in wegen Netzhautschädigung erforderlichen medizinischen Eingriffen mit sich bringt.
Zu den bedeutsamsten Drogen zur Behandlung von arterieller Hypertonie zählt in der modernen TCM derzeit der Indische Morgenstern (Uncaria rhynchophylla) aus der Familie der Rötegewächse. In Kombination mit der Klein-Braunelle belegen Studien eine überadditive Wirkung, die mit synthetischen Kalzium-Antagonisten vergleichbar ist.
Die Klein-Braunelle zeigt dem Europäer, dass in der heimischen Flora selbst am Wegrand noch Pflanzen auf ihre Wiederentdeckung, medizinische Neubewertung und Einführung in eine schlüssige Phytopraxis warten. Mit ihren gefäßwirksamen Prinzipien erschließt die Klein-Braunelle ein breites Anwendungsfeld und findet auf systemischen Weg auch zum Auge. Vielleicht sollten wir in Zukunft mit etwas mehr Ehrfurcht über unsere Klein-Braunellen steigen.
Viel Genuss bei der ersten Tasse Braune(lle)n Tee wünscht Phytagoras!